Rechtsprofessoren werden politischer

14. Januar 2016

Daniel Gerny, NZZ

Die Liste der Professoren, die sich gegen die Durchsetzungsinitiative wehren, wächst. Die Dynamik steht für eine Tendenz: Die Rechtswissenschaft bringt sich vermehrt kollektiv in die Politik ein.

Der Aufruf von Rechtsprofessoren gegen die Durchsetzungsinitiative mitten im Abstimmungskampf entfaltete am Donnerstag prompte Wirkung: Innert Minuten wurde das Manifest via soziale Netzwerke weiterverbreitet. Dem kollektiven Appell wird Gewicht beigemessen. Auf Twitter und Facebook äusserten Politiker die Hoffnung, dass der Aufruf für neuen Schwung bei der Kampagne der Gegner sorge. Im Laufe des Tages erhöhte sich die Zahl der unterstützenden Professoren von rund 120 auf 150. Doch in der Diskussion wird auch die Befürchtung geäussert, dass das Vorhaben wenig bringe: «Gut gemeint, aber die, um die es geht, werden sich gerade von Rechtsprofessoren nicht überzeugen lassen», lautete beispielsweise eine Wortmeldung auf dem Kurznachrichtendienst Twitter.

Stellungnahme für Uno-Beitritt

Politische Wortmeldungen der Wissenschaft sind nichts Neues. Doch bis in die 1980er Jahre zeigten sich Professoren bei kollektiven Aufrufen zurückhaltend. Sie äusserten sich bis dann zumeist individuell. 1985 verfassten Staatsrechtsprofessoren gemeinsam eine Petition zur Frage des doppelten Ja bei Initiative und Gegenentwurf und beeinflussten so die Debatte in den eidgenössischen Räten, wie in einer Publikation von Andreas Kley, Professor für öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte, nachzulesen ist. Als Folge davon wurde die Möglichkeit des doppelten Ja verfassungsmässig verankert. 2002 veröffentlichten Professoren des öffentlichen Rechts drei Wochen vor der Abstimmung eine positive Stellungnahme zum Uno-Beitritt. Es war der erste Aufruf, der sich direkt an die Stimmbürger richtete. Und 2008 nahmen 69 Staatsrechtsprofessorinnen in einer «Resolution» gegen die Volksinitiative «Für demokratische Einbürgerungen» Stellung, um nur ein weiteres von verschiedenen Beispielen zu nennen, die sich im 21. Jahrhundert häuften.

Gleichzeitig schlagen sich die Polarisierung in der Politik und die Infragestellung von rechtsstaatlichen Prinzipien durch Volksinitiativen auf die Erklärungen nieder. Heute richten sich kollektive Wortmeldungen praktisch ausnahmslos gegen Begehren von rechts - so wie dies auch im aktuellen Manifest der Fall ist.

Chance auch für die SVP

Noch unmittelbarer erscheint das Engagement von Rechtsgelehrten beim Volksbegehren «Raus aus der Sackgasse» (Rasa) zur Rückgängigmachung der Masseneinwanderungsinitiative, bei dem Professoren federführend und direkt ins politische Geschehen eingreifen. Noch nie aber haben sich Jura-Professoren so geschlossen und in so grosser Zahl hinter ein Anliegen gestellt wie im jetzigen Appell gegen die Durchsetzungsinitiative.

«Wir haben als Wissenschafter eine Verantwortung, uns an der Debatte zu beteiligen, bei der rechtsstaatliche Prinzipien in schwerwiegender Weise gefährdet würden», begründet der emeritierte Staatsrechtler Andreas Auer, der das Manifest gegen die Durchsetzungsinitiative mitlanciert hat. Auer erhofft sich nicht nur eine Mobilisierung, sondern auch eine Überzeugungswirkung vor allem bei Unentschlossenen. Das Engagement sei zudem ein Signal an Studierende und künftige Juristen, um die Bedeutung von Verfassungsänderungen dieser Tragweite zu vermitteln.

Ob der von Auer erhoffte Effekt wirklich eintritt, lässt sich schwer beurteilen. Andreas Kley ist allerdings skeptisch: Er befürchtet, dass die Stimme der Wissenschaft an Gewicht verliere, wenn es immer häufiger zu kollektiven Appellen komme. Dadurch, dass die Aufrufe einen parteipolitischen Drall in stets identischer Richtung erhielten, liefen die Rechtsprofessoren Gefahr, als eine Art «Professoren-Partei» wahrgenommen zu werden, befürchtet Kley. Er findet, Rechtsprofessoren sollten sich nur in Ausnahmen von ausserordentlicher Dringlichkeit einmischen - und bezweifelt, dass dies bei der Durchsetzungsinitiative der Fall ist.

Das Misstrauen gegen Eliten

Der Appell ist aus dieser Sicht auch eine Chance für die SVP, das Volk den Gelehrten im Elfenbeinturm gegenüberzustellen, denen sie gerne vorwirft, das Ohr nicht mehr am Puls des Geschehens zu haben. In Zeiten, in denen das Misstrauen gegen Eliten wächst, ist ein kontraproduktiver Effekt dieser Art nicht ausgeschlossen. Obwohl er die Initiative entschieden ablehnt und der SVP nicht nahesteht, hat Kley den Aufruf aus diesen Überlegungen nicht unterzeichnet. Es gibt weitere Professoren, die aus ähnlichen Gründen nicht auf der Liste der Unterzeichner zu finden sind.

Nicht überraschend ist dagegen, dass Wirtschaftsrechtsprofessor und SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt fehlt. Er befürwortet die Durchsetzungsinitiative nach wie vor, auch wenn seine Interpretation, wonach hier geborene, integrierte Ausländer nicht unter den neuen Verfassungsartikel fallen, von niemandem geteilt wird. Vogt findet es zwar kritisch, wenn solche Appelle von Professoren in ihrer Eigenschaft als Wissenschafter unterzeichnet werden. Er selber äussere sich zu politischen Fragen in seiner Funktion als Politiker, erklärt er auf Anfrage - auch wenn die Trennung der Funktionen in seiner Doppelrolle nicht immer einfach sei. Dennoch erachtet er den Aufruf seiner Kollegen als legitim: «Die Meinungsfreiheit gilt für alle.»

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