SVP-Initiative brächte Richter unter Druck

30. Dezember 2015

An­ja Bur­ri, Ta­ges­an­zei­ger

Kommt es zu ei­ner An­nah­me der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve, gibt es ei­ne Be­schwer­de­wel­le. Rechts­an­wäl­te wol­len not­falls bis an den Men­schen­rechts­ge­richts­hof in Strass­burg ge­lan­gen.

Sagt das Stimm­volk am 28. Fe­bru­ar Ja zur Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve der SVP, müs­sen nicht nur ver­ur­teil­te aus­län­di­sche Mör­der, He­ro­in­dea­ler, Ver­ge­wal­ti­ger oder So­zi­al­hil­fe­be­trü­ger die Schweiz ver­las­sen, wie es die Aus­schaf­fungs­in­itia­ti­ve ge­for­dert hat­te. Son­dern auch Aus­län­der, die sich ge­rin­ge­re De­lik­te zu­schul­den kom­men las­sen. Zum Bei­spiel der 32-jäh­ri­ge, in der Schweiz ge­bo­re­ne Ita­lie­ner Dario: Er ge­rät nach ei­nem Dis­co­be­such in ei­ne Schlä­ge­rei, da­nach be­ge­ben sich die Kon­tra­hen­ten mit Platz­wun­den in Spi­tal­pfle­ge. Dario müss­te die Schweiz ver­las­sen, denn er war be­reits vor neun Jah­ren we­gen Fah­rens in an­ge­trun­ke­nem Zu­stand be­straft wor­den. Oder die 46-jäh­ri­ge ira­ni­sche Asyl­be­wer­be­rin Sa­mi­ra, die oh­ne Be­wil­li­gung in Pri­vat­haus­hal­ten putzt und von ei­ner un­zu­frie­de­nen Kun­din ans Mi­gra­ti­ons­amt ver­ra­ten wird. Weil Ma­ria vor ei­nem Jahr ih­ren On­kel, ei­nen ab­ge­wie­se­nen Asyl­be­wer­ber, über des­sen Aus­rei­se­frist hin­aus be­her­bergt hat­te, wür­de sie aus­ge­schafft.

Tau­sen­de Per­so­nen be­trof­fen

Für vie­le An­wäl­te ist klar: Sol­che Aus­schaf­fun­gen wer­den sie nicht ak­zep­tie­ren. Nach ei­nem Ja zur Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve droht ei­ne Wel­le von Be­schwer­den. Ge­mäss Be­rech­nun­gen des Bun­des­amts für Sta­tis­tik wä­ren nach den Re­geln der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve im Jahr 2014 über 2200 Per­so­nen mit ei­ner Auf­ent­halts- oder Nie­der­las­sungs­be­wil­li­gung des Lan­des ver­wie­sen wor­den - längst nicht al­le we­gen De­lik­ten wie Raub oder Ver­ge­wal­ti­gung. «In vie­len re­la­tiv leich­ten Fäl­len wä­re es zwin­gend, die Lan­des­ver­wei­sung an­zu­fech­ten», sagt der Mi­gra­ti­ons­rechts­ex­per­te und An­walt Marc Spe­scha. Das men­schen­recht­lich ge­schütz­te Pri­vat- und Fa­mi­li­en­le­ben wer­de so of­fen­sicht­lich ver­letzt, dass er ent­spre­chen­de Be­schwer­den so­gar auf ei­ge­nes Ri­si­ko füh­ren wür­de. «Kommt die SVP-In­itia­ti­ve durch, müs­sen die Bun­des­rich­ter und wenn nö­tig der Eu­ro­päi­sche Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te ent­schei­den», sagt Straf­rechts­ex­per­te Mar­cel Bo­son­net.

«90 Pro­zent Er­folgs­chan­ce»

Die bei­den An­wäl­te sind nicht al­lei­ne mit die­ser Mei­nung, wie ei­ne Um­fra­ge des TA un­ter gut ei­nem Dut­zend An­wäl­ten und Rechts­ex­per­ten zeigt. Auch sie schät­zen ih­re Er­folgs­aus­sich­ten sehr hoch ein - selbst wenn die kan­to­na­len Ge­rich­te oder das Bun­des­ge­richt sich an die Ver­fas­sungs­be­stim­mun­gen der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve hal­ten wür­den. ««Es ist ab­seh­bar, dass die Rich­ter am Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hof für Men­schen­rech­te in über 90 Pro­zent der von der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve er­zwun­ge­nen Lan­des­ver­wei­sun­gen ei­ne Ver­let­zung der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on rü­gen wür­den», schätzt Spe­scha. Heu­te sei die­se Quo­te um­ge­kehrt: In über 95 Pro­zent der Fäl­le wür­den die Ur­tei­le der Schweiz be­stä­tigt. Raum für Kla­gen se­hen die Geg­ner der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve vor al­lem in drei Punk­ten:

Ers­tens geht es um das in der Bun­des­ver­fas­sung ver­an­ker­te Prin­zip der Ver­hält­nis­mäs­sig­keit: Das Volks­be­geh­ren zwingt Rich­ter und Staats­an­wäl­te, Lan­des­ver­wei­se aus­zu­spre­chen, oh­ne die Schwe­re der Tat zu be­rück­sich­ti­gen. Es wird al­so ei­ne gan­ze Rei­he sehr un­ter­schied­li­cher De­lik­te mit Aus­schaf­fung be­straft - ein­zig die Dau­er des Lan­des­ver­wei­ses kann va­ri­ie­ren. Bei schwe­ren De­lik­ten wie Mord oder Raub reicht ei­ne Ver­ur­tei­lung. Bei leich­te­ren De­lik­ten wie Rauf­han­del, ge­wis­sen Ver­stös­sen ge­gen das Aus­län­der­ge­setz oder Haus­frie­dens­bruch mit Sach­be­schä­di­gung gilt ein Prin­zip der Gel­ben Kar­te: Die Ver­ur­teil­ten wer­den au­to­ma­tisch aus­ge­schafft, wenn sie in den letz­ten zehn Jah­ren be­reits ein­mal zu ei­ner be­lie­bi­gen Geld- oder Frei­heits­stra­fe ver­ur­teilt wur­den.

Zwei­tens geht es um die Ach­tung des Pri­vat- und Fa­mi­li­en­le­bens, die in der Eu­ro­päi­schen Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on (EM­RK) ga­ran­tiert ist. Die EM­RK er­laubt die Aus­schaf­fung von ver­ur­teil­ten Straf­tä­tern, ver­langt aber, dass je­der Ein­zel­fall ge­prüft wird. Da­bei muss das öf­fent­li­che In­ter­es­se an ei­ner Lan­des­ver­wei­sung grös­ser sein als die pri­va­ten In­ter­es­sen ei­nes Be­trof­fe­nen am Ver­bleib in der Schweiz. Zu Letz­te­ren ge­hö­ren zum Bei­spiel die fa­mi­liä­re Si­tua­ti­on oder das Wohl all­fäl­li­ger Kin­der. Be­son­ders ins Ge­wicht fällt, ob je­mand in der Schweiz ge­bo­ren wur­de oder hier auf­ge­wach­sen ist.

Drit­tens schränkt die Durchsetzungs­initiative für be­stimm­te Per­so­nen den Rechts­weg ein: Wer sich ge­gen die Aus­schaf­fung wehrt, weil ihm in sei­ner Hei­mat Fol­ter oder Ver­fol­gung dro­hen, kann den Ent­scheid nur noch bei ei­nem kan­to­na­len Ge­richt an­fech­ten. Die Durch­setzungsinitiative un­ter­sagt die­sen Per­so­nen den Gang ans Bun­des­ge­richt.

Was gilt?

Alt-Bun­des­ge­richts­prä­si­dent Giu­sep Nay ist über­zeugt, dass die meis­ten Be­schwer­de­füh­rer spä­tes­tens vor Bun­des­ge­richt Recht er­hal­ten wür­den. «Das Bun­des­ge­richt darf die Be­stim­mun­gen der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve nur an­wen­den, so­weit sie mit den gel­ten­den völ­ker­recht­li­chen Men­schen­rechts­ga­ran­ti­en ver­ein­bar sind», sagt er. Die­se sei­en ja ge­ra­de da­zu da, um die Men­schen vor un­ver­hält­nis­mäs­si­gen Ein­grif­fen des Staa­tes zu schüt­zen, und könn­ten nach der gel­ten­den Rechts­spre­chung aus­drück­lich nicht von ei­ner jün­ge­ren Ein­zel­be­stim­mung ver­drängt wer­den - sie ver­lö­ren sonst ih­ren ei­gent­li­chen Sinn. Um die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve an­zu­wen­den, müss­te die Schweiz die EM­RK kün­di­gen.

Für SVP-Na­tio­nal­rat und Ju­rist Gre­gor Rutz ist hin­ge­gen klar: Das Bun­des­ge­richt müss­te sich an die Be­stim­mun­gen der Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve hal­ten. «Der Ent­scheid von Volk und Stän­den und da­mit die jüngs­te Ver­fas­sungs­be­stim­mung ha­ben Vor­rang», lau­tet sein Ar­gu­ment.

Die­se un­ter­schied­li­chen Auf­fas­sun­gen zei­gen: Die Durch­set­zungs­in­itia­ti­ve pro­vo­ziert ei­nen Streit zwi­schen den Rich­tern und der Po­li­tik. «Ge­ra­de die Bun­des­rich­ter kä­men un­ter gros­sen po­li­ti­schen Druck, den Volks­wil­len um­zu­set­zen», sagt Alt-Bun­des­rich­ter ­Niccolò Ra­sel­li. «Dies, ob­wohl sie auf­grund der Men­schen­rechts­kon­ven­ti­on und des UNO-Pak­tes II wei­ter­hin da­zu ver­pflich­tet wä­ren, je­de Lan­des­aus­wei­sung auf ih­re Ver­hält­nis­mäs­sig­keit zu prü­fen.»

Aus Sicht der In­iti­an­ten ist aber eben ge­ra­de die Um­set­zung des Volks­wil­lens die Auf­ga­be der Rich­ter: «Es ist das Ziel un­se­rer In­itia­ti­ve, be­züg­lich Lan­des­ver­wei­sun­gen ei­nen kla­ren, zwin­gen­den Rah­men vor­zu­ge­ben. Dies­be­züg­lich sol­len die Ge­rich­te nicht mehr je­de Fra­ge sel­ber ent­schei­den kön­nen», sagt Gre­gor Rutz. Er ha­be den Ein­druck, dass vor al­lem das Bun­des­ge­richt sich im­mer häu­fi­ger in po­li­ti­sche Ent­schei­de ein­mi­sche. Wenn die Ge­rich­te aber mach­ten, was sie woll­ten, brau­che es kei­ne Ge­set­ze mehr. Volks­in­itia­ti­ven und das Par­la­ment wür­den über­flüs­sig. Das sieht Nay ganz an­ders: «Die Ge­rich­te sind die un­ab­hän­gi­ge drit­te Ge­walt im Staat», sagt er. Sie müss­ten bei der Rechts­an­wen­dung das letz­te Wort ha­ben und sei­en nur dem Recht ver­pflich­tet - und zwar al­lem de­mo­kra­tisch ge­setz­ten Recht.

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