Vorwort
Im März 2006 schrieb die damalige Bundesministerin für Gesundheit, Ulla Schmidt, im Vorwort der Werbebroschüre für die elektronische Gesundheitskarte (eGK), das deutsche Gesundheitssystem sei ein leistungsfähiges System. Mit der nun einzuführenden „kleine(n) schlaue(n) Karte“ werde der Weg „für mehr Qualität, mehr Sicherheit und mehr Effizienz im Gesundheitswesen“ beschritten.
Die Ankündigung, die eGK ab Januar 2006 einzuführen, alarmierte im Sommer 2005 das Komitee für Grundrechte und Demokratie. Im August riefen wir zur Gründung einer Arbeitsgruppe auf: „Mit der eCard soll eine ,bundesweite interoperable Telematikinfrastruktur‘ geschaffen werden. Geworben wird mit zahlreichen Versprechungen vom Nutzen und Wert für den Patienten und die Patientin. Tatsächlich gäbe es im Gesundheitswesen und bezüglich der Kommunikation und dem Informationsfluss vieles zu verbessern. Nicht das Wohl der Patienten, sondern Rationalisierung und Vereinheitlichung sind jedoch entscheidende Gründe für die Einführung einer zentralen Datei. Das Projekt verspricht zugleich, für manche ein gigantisches Geschäft zu werden. Statt der in den Werbungen vielgepriesenen Patientenautonomie werden die Patienten noch stärker in der Bürokratie des Gesundheitswesens verloren sein und wird jede informierte Entscheidung fast unmöglich werden.“ ( Infobrief des Komitee für Grundrechte und Demokratie: INFORMATIONEN 4/2005 https://grundrechtekomitee.de/sites/default/files/info4_05.pdf ) Wir wiesen darauf hin, dass der Präsident der Bundesärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, auf dem Ärztetag 2005 warnte, nicht mehr der Patient stehe im Vordergrund, sondern die Effizienz steigernde gesundheitsökonomische Steuerung (vgl. Frankfurter Rundschau, 4. Mai 2005).
Seitdem arbeitet eine kleine Arbeitsgruppe im Grundrechtekomitee daran, die Kritik an der eGK zu fundieren, den Protest in Kooperation mit anderen Gruppen und Organisationen zu koordinieren und Aufklärungsarbeit zu leisten. In einer öffentlichen Tagung beschäftigten wir uns mit den Entwicklungen im Gesundheitssystem, in einer „Sommerschule“ diskutierten wir intensiv über die gegenwärtigen Entwicklungen, die im Gegensatz zu unseren Erwartungen an ein Gesundheitssystem stehen. Im Mai 2006 gaben wir eine Bürger- und Bürgerinnen-Information mit dem Titel „Das grosse Gesundheitsversprechen – und seine grosse Täuschung“ heraus. Wir sammelten Unterschriften gegen die Einführung der elektronischen Gesundheitskarte und übergaben sie dem Gesundheitsministerium. Wir nahmen gegen aktuelle Entwicklungen Stellung und veröffentlichten im November 2008 den Aufruf „Nein zum Umbau des Gesundheitssystems zu einem Kontrollsystem!“, mit dem wir aufforderten, den Krankenkassen keine Fotos zur Verfügung zu stellen.
Mit diesem Buch wollen wir nun aus verschiedenen Perspektiven belegen, dass die elektronische Gesundheitskarte ein bedeutender Baustein in der Neuordnung des Gesundheitssystems ist, und begründen, warum gegen diesen Umbau Protest geboten ist.
Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit soll marktwirtschaftlichen Gesetzen unterworfen werden. Jeder soll haftbar für den Umgang mit seinem Körper gemacht werden. Das Verhalten von Ärzten und Patienten soll umfassend kontrolliert werden. Das Wissen um diese Kontrolle soll die Betroffenen veranlassen, sich den Erwartungen der Bürokratie gemäss zu verhalten.
Einführend beschreibt Elke Steven den gegenwärtigen Stand der Planung und Einführung der eGK, begründet die grundlegende Kritik, die deren Entwicklung begleitet hat, und entlarvt das Akzeptanzmanagement.
Im folgenden Abschnitt berichten wir anschaulich über die alltägliche ärztliche Praxis. Der Hausarzt Svante Gehring wirft einen Blick in die Zukunft und erzählt die Geschichte des Patienten Müller, der mit seiner eGK die Praxisabläufe durcheinanderbringt und völlig unzufrieden ist mit den veränderten Praxen seines Hausarztes, dem er mal vertraut hatte. Die Ärztin Astrid André-Nimrich schildert in einem Interview ihre Erfahrungen in einer Hausarztpraxis. Sie berichtet von den Veränderungen, die in den letzten Jahren notwendig
gemacht wurden und von ihren Befürchtungen für die Zukunft. Frigga Haug schildert ihre Erfahrungen als Patientin im neoliberalen Krankenhaus, und Wolf-Dieter Narr reflektiert seine Patientenerfahrung im durchstrukturierten Krankenhaus, das die Einbeziehung des Patienten vergisst und ihn seiner Integrität beraubt.
Im zweiten Abschnitt zeichnen wir aktuelle Entwicklungslinien im Gesundheitssystem nach, die durch die neue Gesundheitskarte unterstützt werden sollen. Wolf-Dieter Narr setzt sich mit dem Begriff der Prävention in der Medizin auseinander. Die Orientierung auf Prävention, die nicht nur das Gesundheitssystem durchdringt, sondern auch weitreichende Folgen für eine Politik der Inneren Sicherheit entfaltet hat, lässt die Vielfältigkeit der Bedingungen und Zusammenhänge in den Hintergrund treten. Daten sind die Grundlage von Forschungsansätzen in der Medizin, sie dienen aber auch der Gesundheitsversorgung und Krankheitsverwaltung. Uta Wagenmann verweist auf die Begehrlichkeiten bezüglich der Daten und auf die schleichende Verwischung ihrer Nutzung. Forschungsergebnisse dienen auch dazu, Krankheitsrisiken zu individualisieren. Klaus-Peter Görlitzer zeigt, dass Medizin-Forscher längst Instrumente zur Priorisierung entwickeln, also Leitlinien nach denen festgelegt wird, wer welche Behandlung erhalten soll.
Ob der Datenschutz mit der eGK überhaupt gewährleistet werden kann, ist ein auch unter Datenschützern umstrittenes Thema. Wolfgang Linder weist in „fünf Lehrstücken“ nach, wie sukzessive die Interessen der Patienten und Patientinnen in den Hintergrund gedrängt werden.
Wurden zunächst zumindest noch Deckmäntelchen erfunden, um den Anschein der Wahrung der Interessen der Patienten und Ärzte zu erwecken, so wurden in letzter Zeit immer unverblümter Gesetze ohne öffentlichen Diskurs und zum Nachteil des Datenschutzes geändert.
In einem letzten Abschnitt widmen wir uns den bürokratischen Funktionen der eGK. Jan Kuhlmann geht den ökonomischen Funktionen auf den Grund. Wolf-Dieter Narr beschreibt
das Gesundheitssystem, das sich den Logiken von Technik und Kapital verschrieben und einen Wasserkopf der Bürokratie entwickelt hat. Zugleich gibt er Ausblicke auf die Erwartungen an ein menschenrechtlich fundiertes Heil- und Gesundheitssystem des 21. Jahrhunderts.
Wir wollen Lust machen, sich mit dem komplexen Gesundheits-System auseinanderzusetzen, das uns alle in seinen Wirkungen früher oder später unmittelbar betrifft. Wir wollen Widerspruch wecken und hoffen, dass (neue) Allianzen zum Schutz der Rechte von Patienten und Patientinnen möglich werden.
gez. Astrid André-Nimrich • Ursula Ganssauge • Svante Gehring • Hans-Joachim Krauss • Jan Kuhlmann • Wolfgang Linder • Wolf-Dieter Narr • Elke Steven (Arbeitsgruppe „Gesundheit“ des Komitee für Grundrechte und Demokratie)
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