Sozialhilfe: Recht auf faire Behandlung

September 2013

Christian Thommen, «Debatte» Nr. 26

Im Februar 2013 berichtete eine Zeitung über den «frechsten Sozialhilfe-Bezüger der Schweiz». Unser Beitrag zeichnet nach, wie dieser durch alle Instanzen hindurch gegen die betreffende Gemeinde recht erhielt, die ihm die Unterstützung verweigern wollte und alle für sie negativen Entscheide bis vor Bundesgericht weiterzog. Für einmal ein kleiner Erfolg einer jener Menschen, die die Gesellschaft ausgrenzt und auch die Linke meist nicht weiter beachtet. (Red.)

«Im November 2011 hatte die Gemeinde Berikon dem Schweizer die Sozialhilfe gestrichen. Begründung: Der Mann verhalte sich seit Jahren unkooperativ Er ignoriere Termine, hole Behörden-Schreiben nicht ab und verweigere gemeinnützige Arbeit. Schliesslich sah der Gemeinderat keine andere Möglichkeit mehr, als dem renitenten Sozialhilfebezüger den Geldhahn zuzudrehen. «Wir können solches Verhalten doch nicht einfach hinnehmen», sagt die Beriker SP-Sozialvorsteherin und Vizeamtsfrau Rosemarie Groux. Plötzlich wurde der arbeitsscheue Mann fleissig: Er ging rechtlich gegen die Verfügung vor, kämpfte sich durch mehrere Instanzen bis zum Bundesgericht - und gewann, wie die Gemeinde jetzt mitteilte.»

Im Urteil des Bundesgerichts wurden Verfahrensmängel der Gemeinde geltend gemacht. Zudem wurde festgehalten, dass renitentes nicht mit missbräuchlichem Verhalten gleichzusetzen sei. Obendrein hat die Gemeinde Berikon die Angelegenheit durch alle Instanzen gezogen, nicht der obsiegende Sozialhilfebezüger. Der Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS), Walter Schmid, äusserte sich grundsätzlich positiv über das Urteil des Bundesgerichts, da auch unkooperative Klientlnnen Anrecht auf Sozialhilfe hätten. Dies nahm die Gemeinde Rorschach zum Anlass, ihren Austritt aus der SKOS bekannt zu geben, da sich diese einseitig fiir die Sozialhilfebezügerlnnen einsetze, und die Anliegen der Gemeinden nicht genügend unterstütze. Andere Gemeinden, z. B. Dübendorf und auch Berikon, folgten und traten ebenfalls aus der SKOS aus. Der Austritt einer Gemeinde aus der SKOS hat keine Auswirkung auf die Sozialhilfe - diese muss jede Gemeinde nach kantonalen Richtlinien gewähren -, vielmehr ist es einfach ein «Täubele», aber auch eine Offenbarung von Inkompetenz in sozialhilferechtlichen Angelegenheiten.

Was wirklich geschah

Der 1990 geborene L. bezieht seit Juni 2008 Sozialhilfe der Gemeinde Berikon. Mit Verfügung vom 26. September 2011 stellte der Gemeinderat die materielle Hilfe für den Lebensunterhalt und die Miete wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens mit Wirkung ab 30. September 2011 ein; die medizinische Grundversorgung wurde aufrechterhalten.

Dagegen reichte L. beim Bezirksamt Bremgarten Beschwerde ein. Dieses kam zum· Schluss, dass kein rechtsmissbräuchliches Verhalten vorliege und der angefochtene Entscheid daher aufzuheben sei. Wegen der Nichtbeachtung verfügter Auflagen und Weisungen bezüglich der Einhaltung von Gesprächsterminen beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) und der sehr schwierigen Zusammenarbeit ordnete es eine Kürzung des Grundbedarfs II für die Dauer von drei Monaten ab Januar bis und mit März 2012 an (Entscheid vom 12. Dezember 2011).

Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau wies die von der Gemeinde Berikon erhobene Beschwerde gegen den Beschluss des Bezirksamts Bremgarten mit Entscheid vom 30. April 2012 ab. Die Gemeinde Berikon führte daraufhin Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Bundesgericht und blitzte auch dort ab.

Die Gemeinde Berikon rügte, das Verwaltungsgericht habe ihre Autonomie verletzt, indem dieses in ihren Entscheidungsspielraum bei der konkreten Handhabung des Sozialhilfeanspruchs eingegriffen habe. Das Bundesgericht schützte diese Einrede unter Verweis auf das Gesetz des Kantons Aargau vom 6. März 2001 über die öffentliche Sozialhilfe und die soziale Prävention (SPG) nicht. Die Gemeinde ist nicht befugt, von diesem Gesetz abzuweichen. Weiter argumentierte die Gemeinde Berikon, durch das Schwänzen mehrerer Beratungstermine beim RAV sowie der Missachtung diverser Weisungen habe der Sozialhilfebezüger Rechtsmissbrauch begangen. Das Verwaltungsgericht hat daraus, wie schon das Bezirksamt Bremgarten, den Schluss gezogen, das unzuverlässige und unkooperative Verhalten des Beschwerdegegners rechtfertige Sanktionen, nicht aber eine Einstellung der Sozialhilfe wegen Rechtsmissbrauchs. Das Bundesgericht schloss sich dieser Ansicht an.

Die Gemeinde Berikon brachte zudem vor, dem Sozialhilfebezüger sei es aufgrund seiner zumindest teilweisen Arbeitsfähigkeit möglich, selber für seinen Lebensunterhalt zu sorgen. Das hypothetische Einkommen sei ihm anzurechnen, so dass kein Anspruch auf Sozialhilfe bestehe. Das Bundesgericht erwog dazu, dass sich die Gemeinde Berikon selbst widerspreche, wenn sie geltend mache, die Anspruchsvoraussetzungen zum Sozialhilfebezug seien nicht erfüllt. Mit Dispositiv Ziffer 1 ihrer Verfügung vom 26. September 2011 habe sie nämlich die materielle Hilfe für den Lebensunterhalt und die Miete ausdrücklich wegen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens eingestellt und nicht, weil ein hypothetisches Einkommen anzurechnen sei.

Bezüglich Auflagen und Weisungen an Sozialhilfebezüger bestritt die Gemeinde Berikon, dass diese zwingend in Form einer Verfügung zu ergehen hätten. Auch diese Rüge wurde vom Bundesgericht unter Hinweis auf das SPK und die SKOS-Richtlinien als unbegründet abgewiesen.

Das Bundesgericht kam zudem zum Schluss, dass eine mehrwöchige Ferienabwesenheit nicht vorgängig gemeldet muss, um die allgemeine Mitwirkungs- und Meldepflicht nicht zu verletzten. Gemeldet werden müssen lediglich Sachverhalte, welche einen Einfluss auf die Berechnung der Sozialhilfeleistung haben.

Beim Bundesgericht abgeblitzt

Als Folge des Urteils hat Berikon die Gangart gegenüber allen Sozialhilfebezügern verschärft. Am 20. Februar 2013 sagte Rosemarie Groux der «Aargauer Zeitung»: «Künftig werden wir jedes Telefonat schriftlich festhalten, um in einem Verfahren unsere Bemühungen lückenlos belegen zu können» und «wenn zum Beispiel jemand einen Termin versäumt, hat dies eine Kürzung der Sozialhilfe um einmalig 50 Franken zur Folge». Durch den Gerichtsfall habe man gemerkt, dass es diese strenge Linie brauche, denn sonst stehe man renitenten Sozialhilfebezügern machtlos gegenüber. Dass es aber eine Verfügung braucht, welche eine Kürzung der Sozialhilfe androht, hat Rosemarie Groux wohl übersehen. Zudem ist eine «Busse» von 50 Franken für jeden verpassten Termin kaum bis nicht verhältnismässig.

Mit dem Urteil des Bundesgerichts ist der Entscheid vom 12. Dezember 2011 des Bezirksamts Bremgarten in Rechtskraft erwachsen. Die Gemeinde Berikon müsste Sozialhilfe bezahlen, unter Kürzung des Grundbedarfs II für die Dauer von drei Monaten. Bezahlt hat sie aber noch keinen Rappen. Vielmehr verlangt sie jetzt schikanöse Zusatzinformationen, so sollen z. B. alle Auslagen für den Zeitraum zwischen November 2011 und Januar 2013 aufgezeigt werden. Weder sehen dies das SPK oder die Richtlinien der SKOS vor, noch haben das Bezirksamt Bremgarten oder eines der involvierten Gerichte etwas Entsprechendes verfügt. Die Gemeinde Berikon stellt sich somit klar gegen einen Entscheid des Bundesgerichts.

Eine schlechte Figur macht ebenso der kantonale Sozialdienst des Kantons Aargau, welcher eine Beschwerde des Sozialhilfebezügers gegen die Verfügung, mit welcher die Offenlegung aller Auslagen verlangt wurde, abgewiesen hat. Das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau muss sich jetzt zum zweiten Mal mit einer Angelegenheit befassen, welche das Bundesgericht letztinstanzlich entschieden hat.

Dorfkönige entmachten

Wie die Sozialhilfe stellt auch die Vormundschaft ein sensibles Gebiet dar. Bis vor kurzem konnten für vorrnundschaftliche Fragen auch Gemeinderäte verantwortlich sein, deren einzige Qualifikation darin bestand, von einer Mehrheit gewählt worden zu sein. In gewissen Orten wird in den Gemeinderat gewählt, wer in der Dorfbeiz am Stammtisch die markigsten Sprüche klopft. Werm derartige Leute entscheiden müssen, ob zum Beispiel eine Person in eine Anstalt eingewiesen werden soll, sind willkürliche Entscheide vorprogrammiert. Dieses Problem wurde erkannt, in der Botschaft zur Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutz, Personenrecht und Kindesrecht), welche per l. Januar 2013 in Kraft trat, schrieb der Bundesrat: «Das Vormundschaftswesen ist heute uneinheitlich und unübersichtlich organisiert. Während in den welschen Kantonen die vormundschaftlichen Behörden in der Regel Gerichte sind, amten an verschiedenen Orten der deutschen Schweiz als Vormundschaftsbehörde Laien, die politisch gewählt sind und keine einschlägigen fachlichen Vorgaben erfüllen müssen. Von Fachleuten wird schon seit längerer Zeit eine Verbesserung der Verhältnisse gefordert. Mit dem Inkrafttreten des neuen Rechts sollen alle Entscheide im Bereich des Kindes- und Erwachsenenschutzes bei einer Fachbehörde konzentriert werden.» Diese Ausführungen des Bundesrates zur Vormundschaft können unverändert auf die Sozialhilfe übertragen werden. Der Fall des «frechsten Sozialhilfe-Bezügers der Schweiz» und die Austritte von Rorschach, Dübendorf und Berikon aus der SKOS belegen, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.

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