Weicht das Nachrichtendienstgesetz das Berufsgeheimnis von Rechtsanwälten auf?

4. Juli 2016

Martin Steiger, plädoyer 4/16

Ja. Mit dem Bundesgesetz über den Nachrichtendienst (NDG) findet ein Paradigmenwechsel statt: Der Nachrichtendienst des Bundes soll zahlreiche Kompetenzen erhalten, die bislang den Strafverfolgungsbehörden vorbehalten waren oder völlig neu sind. Der schweizerische Geheimdienst soll sich nicht mehr «nur» auf präventiven Staatsschutz beschränken, sondern als mächtige Sicherheitsbehörde intervenieren und den «Schutz wichtiger Landesinteressen» weitgehend nach eigenem Ermessen im Geheimen verfolgen können.

Das Berufsgeheimnis für Rechtsanwälte stützt sich insbesondere auf das Grundrecht der Privatsphäre und die Verfahrensgarantien gemäss EMRK und Bundesverfassung. lm Nachrichtendienstgesetz wird das Anwaltsgeheimnis nicht eindeutig und umfassend geschützt. Bei der einzigen ausdrücklichen Erwähnung des Berufsgeheimnisses im NDG sind nicht Rechtsanwälte, sondern auskunftserteilende oder meldende Personen bei Behörden gemeint. «Genehmigungsfreie Beschaffungsmassnahmen» wie die Überwachung an «öffentlichen und allgemein zugänglichen Orten» mit Drohnen sind zwar unabhängig vom Anwaltsgeheimnis im Bereich der «geschützten Privatsphäre» nicht zulässig. Aber es bleibt dem Nachrichtendienst überlassen, hinter verschlossenen Türen und ohne wirksame Aufsicht den Begriff der «geschützten Privatsphäre» zu definieren.

Das NDG sieht nur wenige Ausnahmen für Rechtsanwälte als überwachte Drittpersonen vor: Ausschreibungen von Fahrzeugen zur Fahndung sowie «genehmigungspflichtige Beschaffungsmassnahmen» wie die Überwachung nach BÜPF oder der Einsatz von Staatstrojanern dürfen nicht angeordnet werden. Sofern solche Überwachungsmassnahmen Rechtsanwälte direkt betreffen, müssen lediglich Daten, die «keinen Bezug zur spezifischen Bedrohungslage aufweisen» - nicht etwa Daten, die durch das Anwaltsgeheimnis geschützt sind - unter Aufsicht des Bundesverwaltungsgerichts ausgesondert und vernichtet werden.

Gleichzeitig höhlt das NDG durch anlasslose und Verdachtsunabhängige Massenüberwachung das Anwaltsgeheimnis aus: Funk- und Kabelauiklärung, IMSI-Catcher und Vorratsdatenspeicherung richten sich immer gegen alle Menschen und kennen keine Ausnahmen, Differenzierungen oder Einschränkungen für das Anwaltsgeheimnis. Eine etwaige Aussonderung kann erst erfolgen, wenn es zu spät ist - nämlich nach dem schwerwiegenden Grundrechtseingriff. Geheime Sicherheitslücken, wie sie für den Einsatz von Staatstrojanern notwendig sind, gefährden die Allgemeinheit, das heisst auch Rechtsanwälte und ihre Mandanten. Solche Eingriffe erfolgen auch durch ausländische Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, mit denen der Nachrichtendienst in der Schweiz und im Ausland zusammenarbeitet sowie Daten austauscht.

Das NDG verzichtet dabei auf einen wirksamen Rechtsschutz und setzt auf das Vertrauensprinzip. Auskunftsrecht und Mitteilungspflicht sind, soweit überhaupt vorhanden, lückenhaft ausgestaltet. Die nachträgliche Prüfung durch den Datenschutzbeauftragten und das Bundesverwaltungsgericht verspottet mit ihrer Einseitigkeit und Geheimhaltung den Rechtsstaat. Auch eine nochmals ausgebaute Aufsicht wird weiterhin scheitern. Die geheimdienstliche Tätigkeit gemäss NDG steht letztlich immer im Widerspruch zum grund- und menschenrechtlich begründeten Anwaltsgeheimnis.

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