Unfreiwillig in die Psychiatrie

28. Januar 2013

Hohe Einweisungsraten im Kanton Zürich

Die Schweiz und insbesondere der Kanton Zürich haben vergleichsweise hohe Raten von Zwangseinweisungen in die Psychiatrie. Laut Fachleuten liesse sich die Quote senken.

Dorothee Vögeli, NZZ

Eine hochsensible Musikerin kann es nicht fassen, dass ihr Liebhaber sie verlässt, und gerät ausser sich. Sie rennt im Nachthemd auf die Strasse - und landet in der psychiatrischen Klinik. Das gleiche Schicksal erlebt ein betrunkener Randständiger, der mit seinem aggressiven Verhalten das Personal eines Notfalldiensts aufschreckt. Ein Bewohner eines Altersheims will nicht essen, wird ausfällig und wird kurzerhand in die Klinik gesteckt. Auch er ist im Rahmen einer «fürsorgerischen Unterbringung» (FU), wie die Zwangseinweisung im neuen Erwachsenenschutzrecht heisst, unfreiwillig in die Psychiatrie eingewiesen worden.

Rudimentäre Begründung

Im Kanton Zürich genügt es, wenn der einweisende Haus- oder Notfallarzt auf dem offiziellen Formular das Stichwort «Fremdgefährdung» ankreuzt. Auch bei «Selbstgefährdung» wie im Fall der verliebten Musikerin können die Einweiser eine FU anordnen. Der Freiheitsentzug bedeutet allerdings einen massiven Eingriff in die persönliche Integrität und kann Betroffene dermassen traumatisieren, dass dieser selbst eine medizinische Behandlung provozieren kann. Entsprechend gross müsste die Zurückhaltung sein.

Die Zahlen zu den Zwangseinweisungen deuten allerdings auf das Gegenteil hin: Im Vergleich mit 15 EU-Ländern hat die Schweiz eine der höchsten Raten. Rund ein Viertel (24 Prozent) aller psychiatrischen Hospitalisationen erfolgen unfreiwillig, wie eine Studie des Bundes zeigt (siehe Kasten). Grosse Unterschiede sind zudem zwischen den Kantonen auszumachen. 2009 erfolgten im Kanton Zürich 26 Prozent der psychiatrischen Einweisungen unfreiwillig, im Kanton Basel Stadt waren es 10 Prozent. Aufgrund des Gefälles zwischen den Kantonen kommt der Verfasser der Studie, der Zürcher Rechtsanwalt Jürg Gassmann, zum Schluss, dass sich die Zahl der Zwangseinweisungen mancherorts reduzieren liesse. So ist etwa die Rate dort tiefer, wo nur Fachärzte eine FU anordnen dürfen oder ein unabhängiger Dienst für Rechtsbeistände eingerichtet wurde. Zudem weisen Regionen mit einer gemeindenahen und niederschwelligen psychiatrischen Versorgungsstruktur wie etwa die Integrierte Psychiatrie Winterthur tiefere Raten auf.

«Ein echtes Problem»

Trotz lückenhafter Datenlage hegen Fachleute aus der Zürcher Akutpsychiatrie keine Zweifel an der hohen Zahl der FU: «Die hohen Zuweisungsraten sind ein echtes Problem», sagt Paul Hoff, Chefarzt der Klinik für soziale Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK). Sein Kollege Andreas Andreae, ärztlicher Direktor der Integrierten Psychiatrie Winterthur (IPW), teilt Hoffs Meinung und verweist auf die komplexen Zusammenhänge hinter den nackten Zahlen. Die niederschwelligen Angebote, interdisziplinären Behandlungspfade und Case-Manager der IPW seien nur ein Faktor, der die FU-Rate beeinflusse, sagt Andreae. In den Städten mit ihren sozialen Brennpunkten und verbreiteter Suchtproblematik seien die Raten weit höher als auf dem Land. Die Toleranzschwelle gegenüber abweichendem Verhalten und ordnungspolitische Vorgaben müssten seines Erachtens insbesondere auch beim internationalen Vergleich mit einbezogen werden. Insofern seien tiefe FU-Quoten nicht zwingend Ausdruck einer guten Psychiatrie - im Gegenteil: Sie können auch Ausdruck der Verwahrlosung von ärmeren Bevölkerungsschichten sein, wie Andreae festhält.

Unangemessene Einweisungen

Die Tatsache, dass in den Schweizer Kliniken viele psychisch Gesunde stranden, die aus unterschiedlichen Gründen mit ihrer Lebenssituation überfordert sind, ist also nicht per se negativ. Problematisch ist jedoch die grosse Zahl von Menschen, die gegen ihren Willen eingeliefert wird. In die Akutstationen der IPW wie der PUK gelangt mindestens ein Drittel aller Patienten über eine FU. Viele liessen sich laut Andreae und Hoff vermeiden. «Wir Klinikärzte haben Verständnis für den Notfallarzt, der mitten im Trubel handeln muss. Aber aus unserer Sicht ist die Schwelle oft zu tief», sagt Hoff, der die Tragweite des von Ärzten verordneten Freiheitsentzugs sehr betont. Würden sich diese mehr Zeit nehmen und gründlicher abklären können, liessen sich seines Erachtens viele unangemessene Einweisungen vermeiden. Häufig landeten Suchtpatienten mit FU in der PUK - was kontraproduktiv sei: «Seine Sucht anzugehen, muss freiwillig sein.»

Martin Paris, langjähriger psychiatrischer Notfallarzt, stellt das nicht in Abrede, hält aber fest: «Werde ich von der Polizei gerufen wegen eines Mannes im Kokainrausch, weise ich ihn lieber in die PUK ein. Dort ist er besser aufgehoben als in der Polizeizelle.»

Nachträgliche Freiwilligkeitserklärungen

Wenn sich die Wellen geglättet haben und die Ausnahmesituation vorbei ist, geben laut Hoff viele FU-Patienten eine Freiwilligkeitserklärung ab. Wer nicht einverstanden ist, kann innerhalb von zehn Tagen beim Bezirksgericht einen Rekurs einreichen, der gemäss neuem Erwachsenenschutzrecht innerhalb von fünf Tagen im Beisein des Einzelrichters, des Arztes, des Patienten und einer allfälligen Vertrauensperson behandelt werden muss. Hoff, der den Ausbau der Rechtssicherheit der Patienten im neuen Gesetz sehr begrüsst, schätzt die Zahl der FU-Rekurrenten in den PUK-Kliniken auf rund einen Drittel. Beim Bezirksgericht Zürich ist die Zahl der FU-Rekurse von 196 (im Jahr 2010) auf 262 (2012) gestiegen. Wie viele davon gutgeheissen wurden, war nicht zu erfahren.

Somatische Ärzte schulen

Manche FU-Fälle gelangen auch ins Universitätsspital Zürich oder in andere nicht psychiatrische Kliniken. Dort sei die Unsicherheit im Umgang mit solchen Patienten gross und eine Aufhebung der FU selten, sagt Tanja Krones, leitende Ärztin der klinischen Ethik am Universitätsspital. Hoff teilt ihre Einschätzung, wonach vor allem aus hektischen somatischen Notfallstationen «schwierige» Patienten zu schnell in die PUK geschickt werden. Einweisende Ärzte sollten psychiatrisch geschult werden, sagt Hoff. Aufgrund des entsprechenden Gesetzesauftrags wird die PUK demnächst Weiterbildungskurse für Notfallärzte anbieten.

Noch einiges zu tun

Keinen unmittelbaren Zusammenhang sieht Hoff zwischen den kürzeren Aufenthaltsdauern auch der psychiatrischen Patienten und der hohen Zahl von FU. Viele Patienten seien dank dem steigenden Angebot von Tageskliniken gut betreut - vom Horrorszenario der USA, wo auch schwer psychotische Patienten bereits nach einer Woche nach Hause geschickt würden, sei die Schweiz weit entfernt. Allerdings sei auch hierzulande der Anspruch «ambulant vor stationär» noch nicht eingelöst. Vor allem an den Schnittstellen gebe es noch einiges zu tun. Probleme gibt es seines Erachtens bei der Nachbehandlung. Weil die Patienten kränker austreten als früher, sind die betreuten Wohngruppen überlastet. Auch Andreae erachtet die Nachbetreuung als grösste Herausforderung.

In den Augen von Edmund Schönenberger vom Verein Psychex zielen all diese Überlegungen am Kernpunkt des Problems vorbei: «Die Zwangspsychiatrie hat mit Fürsorge nichts zu tun, sie ist ein reines Herrschaftsinstrument», schreibt er in seiner Fundamentalkritik. Das neue Erwachsenenschutzrecht sei «neuer Wein in alten Schläuchen», sagte der Zürcher Rechtsanwalt und Vereinsgründer auf Anfrage.

 

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