Beschwerde gegen Dekret BWIS BL

27. Mai 2009

Verfassungsrecht / Verfahrensgarantien

Ge­richt­li­che Zu­stän­dig­keit und Ver­fas­sungs­mäs­sig­keit

§ 87 Abs. 1 KV ver­langt die Re­ge­lung der Zu­stän­dig­keit der Ge­rich­te um­fas­send in ei­nem for­mel­len Ge­setz
 
Sach­ver­halt

Am 11. Sep­tem­ber 2008 hat der Land­rat mit dem De­kret zum Bun­des­ge­setz über Mass­nah­men zur Wah­rung der in­ne­ren Si­cher­heit die Zu­stän­dig­keit zur Über­prü­fung des Po­li­zei­ge­wahr­sams ge­mäss BWIS dem Prä­si­di­um der Ab­tei­lung Ver­fas­sungs- und Ver­wal­tungs­recht des Kan­tons­ge­richts zu­ge­wie­sen.
 
Er­wä­gun­gen

(….)

2. Ge­stützt auf § 30 Abs. 2 VPO kann das Ver­fas­sungs­ge­richt den an­ge­foch­te­nen Er­lass nur auf sei­ne Ver­fas­sungs­mäs­sig­keit hin prü­fen. Im Rah­men der abs­trak­ten Nor­men­kon­trol­le ist es nicht be­fugt, den an­ge­foch­te­nen Er­lass auf sei­ne Über­ein­stim­mung mit Nor­men un­ter­halb der Ver­fas­sungs­stu­fe zu prü­fen. Es kann ei­nen Er­lass nur auf­he­ben, wenn und so­weit er Be­stim­mun­gen ent­hält, die in­halt­lich ge­gen ver­fas­sungs­mäs­si­ge Rech­te ver­stos­sen und ord­nungs­ge­mäss mit ent­spre­chen­den Rü­gen an­ge­foch­ten wor­den sind.

3. Der Be­schwer­de­füh­rer 2 bringt vor, dass der Land­rat die rich­ter­li­che Über­prü­fung des Po­li­zei­ge­wahr­sams zwin­gend auf Ge­set­zes­stu­fe re­geln müs­se.

3.1 Ge­mäss Art. 24e Abs. 1 des Bun­des­ge­setz über Mass­nah­men zur Wah­rung der in­ne­ren Si­cher­heit (BWIS) vom 11. Sep­tem­ber 2008 kann ge­gen ei­ne Per­son der Po­li­zei­ge­wahr­sam ver­fügt wer­den, wenn kon­kre­te und ak­tu­el­le Hin­wei­se da­für vor­lie­gen, dass sie sich an­läss­lich ei­ner na­tio­na­len oder in­ter­na­tio­na­len Sport­ver­an­stal­tung an schwer­wie­gen­den Ge­walt­tä­tig­kei­ten ge­gen Per­so­nen oder Sa­chen be­tei­li­gen wird (lit. a) und wenn dies die ein­zi­ge Mög­lich­keit ist, sie an Ge­walt­tä­tig­kei­ten zu hin­dern (lit. b). Die Recht­mäs­sig­keit des Frei­heits­ent­zugs ist auf An­trag der be­trof­fe­nen Per­son rich­ter­lich zu über­prü­fen (Art. 24e Abs. 5). Das De­kret zum Bun­des­ge­setz über Mass­nah­men zur Wah­rung der in­ne­ren Si­cher­heit (De­kret BWIS) vom 11. Sep­tem­ber 2008 hält fest, dass für die rich­ter­li­che Über­prü­fung der Recht­mäs­sig­keit des Po­li­zei­ge­wahr­sams ge­mäss Ar­ti­kel 24e Ab­satz 5 BWIS so­wie Ar­ti­kel 21g Ab­satz 4 VWIS das Prä­si­di­um der Ab­tei­lung Ver­fas­sungs- und Ver­wal­tungs­recht des Kan­tons­ge­richts zu­stän­dig ist.

3.2 Ge­mäss Art. 30 Abs. 1 BV hat je­de Per­son, de­ren Sa­che in ei­nem ge­richt­li­chen Ver­fah­ren be­ur­teilt wer­den muss, An­spruch auf ein durch Ge­setz ge­schaf­fe­nes, zu­stän­di­ges, un­ab­hän­gi­ges und un­par­tei­isches Ge­richt. Die Bun­des­ver­fas­sung schreibt da­mit die Ga­ran­tie des ge­setz­li­chen Rich­ters fest. Der Bür­ger be­sitzt ei­nen in­di­vi­du­el­len An­spruch dar­auf, dass die Ge­richts­or­ga­ni­sa­ti­on und die Rich­ter­be­stel­lung durch all­ge­mein­ver­bind­li­che Rechts­sät­ze, das heisst ge­ne­rell-abs­trakt, de­ter­mi­niert wer­den (René Rhi­now/Hein­rich Kol­ler/Chris­ti­na Kiss, a.a.O., N 142 f.). Art 30 Abs. 1 BV ver­langt, dass die Grund­zü­ge der Zu­stän­dig­kei­ten, Kom­pe­ten­zen und der Or­ga­ni­sa­ti­on ei­nes Ge­richts in ei­nem for­mel­len Ge­setz ge­ne­rell-abs­trakt nor­miert wer­den (Jörg Paul Mül­ler/Mar­kus Schefer, Grund­rech­te in der Schweiz, Bern 2008, 4. Auf­la­ge, S. 933).

3.3 § 87 Abs. 1 KV ver­langt eben­falls, dass die Grund­zü­ge der Or­ga­ni­sa­ti­on so­wie Zu­stän­dig­keit und Ver­fah­ren der kan­to­na­len Ge­rich­te durch das Ge­setz ge­re­gelt wer­den. Mit die­ser Ver­fas­sungs­be­stim­mung wird die all­ge­mei­ne Norm von § 63 Abs. 1 KV kon­kre­ti­siert, wo­nach der Land­rat „...​alle grund­le­gen­den und wich­ti­gen Be­stim­mun­gen in der Form des Ge­set­zes..." er­las­sen muss. Die Kan­tons­ver­fas­sung be­stimmt da­mit den An­spruch auf den ver­fas­sungs­mäs­si­gen Rich­ter auch da­hin­ge­hend, dass die dies­be­züg­li­chen Be­stim­mun­gen weit­ge­hend in ei­nem Ge­setz im for­mel­len Sin­ne ent­hal­ten sein müs­sen.

3.4 § 87 Abs. 1 KV ver­lang­te noch vor der Teil­re­vi­si­on vom 22. Fe­bru­ar 2002, wel­che am 1. April 2002 in Kraft trat, ei­ne um­fas­sen­de Re­ge­lung von Or­ga­ni­sa­ti­on, Zu­stän­dig­keit und Ver­fah­ren der Ge­rich­te auf Ge­set­zes­stu­fe (vgl. Ur­teil des Ver­fas­sungs­ge­richts des Kan­tons Ba­sel-Land­schaft vom 21. Ju­ni 2000 [99/331, Nr. 139]). Um auf Ver­än­de­run­gen ra­scher zu re­agie­ren kön­nen, hat­te die vor­be­ra­ten­de Jus­tiz- und Po­li­zei­kom­mis­si­on des Land­ra­tes an­läss­lich der Re­vi­si­on des Ge­set­zes be­tref­fend die Or­ga­ni­sa­ti­on der rich­ter­li­chen Be­hör­den ent­schie­den, die Or­ga­ni­sa­ti­on des Kan­tons­ge­richts statt auf Ge­set­zes­stu­fe in ei­nem neu­en De­kret über die Or­ga­ni­sa­ti­on der Ge­rich­te und Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den fest­zu­le­gen. Das Ge­richts­or­ga­ni­sa­ti­ons­ge­setz legt des­halb le­dig­lich den Grund­satz der Or­ga­ni­sa­ti­on in Ab­tei­lun­gen und de­ren Glie­de­rung in Kam­mern und Prä­si­di­en fest, wäh­rend das De­kret die Ab­tei­lun­gen auf­führt. Ana­log zur Be­stim­mung über die Re­ge­lung der Ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­ti­on soll­ten ins­künf­tig nur noch die Grund­zü­ge der Or­ga­ni­sa­ti­on ei­ner for­mell ge­setz­li­chen Re­ge­lung be­dür­fen (Be­richt der Jus­tiz- und Po­li­zei­kom­mis­si­on an den Land­rat be­tref­fend Wei­ter­füh­rung der Ge­richts­re­form [Re­vi­si­on des Ge­set­zes be­tref­fend die Or­ga­ni­sa­ti­on der rich­ter­li­chen Be­hör­den und Än­de­rung der Kan­tons­ver­fas­sung] vom 10. Ja­nu­ar 2001). Die his­to­ri­sche Aus­le­gung von § 87 Abs. 1 KV er­gibt so­mit, dass die Kan­tons­ver­fas­sung auch nach der Teil­re­vi­si­on vom 21. Ju­ni 2000 ei­ne um­fas­sen­de Re­ge­lung der Zu­stän­dig­keit der Ge­rich­te in ei­nem for­mel­len Ge­setz ver­langt.

4. Beim an­ge­foch­te­nen Er­lass des Land­rats han­delt es sich um ein De­kret. Ge­mäss § 63 Abs. 3 KV un­ter­lie­gen De­kre­te des Land­rats nicht der Volks­ab­stim­mung. De­kre­te sind da­her als Ver­ord­nun­gen und nicht als Ge­setz in for­mel­lem Sinn zu qua­li­fi­zie­ren. In An­be­tracht der vor­ste­hen­den Aus­füh­run­gen steht da­mit fest, dass die Form des De­krets den An­for­de­run­gen, wel­che durch die Kan­tons­ver­fas­sung im Rah­men des An­spruchs auf den ver­fas­sungs­mäs­si­gen Rich­ter an die Er­lass­form sol­cher Be­stim­mun­gen ge­stellt wer­den, nicht zu ge­nü­gen ver­mag. Die Be­schwer­de ist da­her gut­zu­heis­sen, so­weit dar­auf ein­ge­tre­ten wer­den kann. Dies führt zur Auf­he­bung des De­kre­tes zum Bun­des­ge­setz über Mass­nah­men zur Wah­rung der in­ne­ren Si­cher­heit (De­kret BWIS) vom 11. Sep­tem­ber 2008. Der Be­schwer­de­füh­rer 2 macht im Wei­te­ren ei­ne Ver­let­zung des An­spruchs auf un­ver­züg­li­che Über­prü­fung ei­nes Frei­heits­ent­zugs nach Art. 31 BV und Art. 5 EM­RK gel­tend. Da die Be­schwer­de be­reits aus an­de­rem Grund gut­zu­heis­sen und das an­ge­foch­te­ne De­kret auf­zu­he­ben ist, kann of­fen ge­las­sen wer­den, ob wei­te­re ver­fas­sungs­mäs­si­ge Rech­te ver­letzt sind.

KGE VV vom 27. Mai 2009 (810 08 345/GRM)

 

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