«Big Data» auch in der Schweiz

10. April 2013

«Big Data» bezeichnet einerseits den dramatischen Anstieg an Daten - produziert von Kredit- und Kundenkarten, Mobiltelefonen, Navigationsgeräten, Sensoren oder Videokameras. 2012 waren es laut der Marktforschungsfirma IDC rund 2,8 Zettabyte - eine unvorstellbare Menge. 2020 sollen es vierzehnmal mehr sein. Gleichzeitig sind die Kosten für Speicherplatz dramatisch gesunken - von 300'000 Dollar für ein Gigabyte 1980 auf rund 10 Cent. Andererseits kann man Daten heute mit Mitteln analysieren, die bisher nicht zur Verfügung standen. Es geht einfacher, billiger - und vor allem schneller. Erst dadurch wird es möglich, im Datenchaos nach Mustern zu suchen.

Werbung für Schwangere

Die US-Supermarktkette Target etwa liess einen Algorithmus entwickeln, welcher aus dem Einkaufsverhalten Tausender von Kundinnen werdende Mütter identifiziert. Basis ist eine Kombination aus 25 Produkten, die auch Anhaltspunkte über den ungefähren Geburtstermin liefern. Greift eine Target-Shopperin zu Vitaminpräparaten und wechselt auf parfümfreie Körperlotion, ist ihr Bauch noch nicht zu sehen. Deckt sie sich hingegen mit grösseren Mengen Wattebäuschen und Desinfektionsmittel ein, steht sie kurz vor der Geburt. Kurz nachdem die Werber angefangen hatten, Schwangeren Werbung für Babykleider, Wiegen usw. zu schicken, kam es zu einem Zwischenfall. Ein erzürnter Vater warf einem Filialleiter vor, seine schulpflichtige Tochter mit derartiger Werbung auf dumme Gedanken bringen zu wollen. Als sich der Filialleiter telefonisch erneut entschuldigen wollte, gestand ihm der Vater, er habe mit seiner Tochter gesprochen - sie sei tatsächlich schwanger. Es sollte nicht der einzige Zwischenfall bleiben. Die werdenden Mütter reagierten äusserst sensibel darauf, dass der Supermarkt so etwas Privates wusste. Die Kampagne wurde aber nicht etwa gestoppt. Der Babywerbung wurde einfach so viel anderes beigemischt, dass die Schwangeren keinen Verdacht mehr schöpften - und die Gutscheine brav beim nächsten Einkauf einlösten.

Aus Telefon-Standortdaten Personenströme nach Alter und Geschlecht analysieren

Anfang Oktober 2012 hatte der spanische Telekomriese Telefónica angekündigt, anonymisierte Bewegungsdaten seiner Kunden vermarkten und sich damit neue Einnahmequellen erschliessen zu wollen. Für die Verwertung der Datenberge gründete Telefónica die Tochtergesellschaft «Telefónica Dynamics Insights», die bei der Entwicklung neuer Angebote mit dem deutschen Marktforschungsinstitut GfK zusammenarbeiten soll. Das Ziel sei es, «analytische Einsichten» zu liefern, «die es ermöglichen, effektiver zu werden». «Smart Step» soll das erste Produkt der neuen Tochtergesellschaft werden und zum Beispiel Erkenntnisse über das Verhalten von Besucherströmen liefern. Am 14. November 2012 wurde «Smart Step» in England gestartet. Personenströme können nach Tag, Zeit, Geschlecht und Alter analysiert werden. Auch in Deutschland war die Einführung von «Smart Step» geplant, aber am 30. Oktober erklärte ein Sprecher des Wirtschaftsministeriums: «Der Handel mit Standortdaten ist grundsätzlich verboten.» Auch anonymisierte Daten dürften nur mit Einwilligung des Handybesitzers weitergegeben werden - und dann auch lediglich an «Dienste mit Zusatznutzen», etwa zur Registrierung von Verkehrsströmen. Eine Prüfung des Ministeriums habe ergeben, dass der von O2 geplante Handel mit Standortdaten keine solche Zusatznutzen biete. Auch das Verbraucherschutzministerium übte Kritik. Ein Sprecher sagte, mit solchen Vermarktungspraktiken werde der Verletzung der Privatsphäre Tür und Tor geöffnet.

Sunrise seit Herbst 2011 bei Telefónica

In der Schweiz ist am 27. September 2011 Sunrise Communications AG dem «Telefónica Partner Program» beigetreten. Gemäss Medienmitteilung ist auch eine Kooperation im Hinblick auf Telefónicas innovative Produkte und Dienstleistungen geplant. Seit dem 1. April 2007 dürfen in der Schweiz dank einer neuen Bestimmung des Fernmeldegesetzes Standortdaten von Kundinnen und Kunden für andere Dienste bearbeitet werden, wenn vorher die Einwilligung der Kundinnen und Kunden eingeholt wurde, oder in anonymisierter Form ohne Einwilligung der Kundinnen und Kunden (Art. 45b FMG). In der Botschaft zur Änderung des Fernmeldegesetzes vom 12. November 2003 wurde dieser neue Gesetzesartikel folgendermassen begründet: «Anhand der Standortdaten können die Fernmeldedienstanbieterinnen oder Dritte den Kundinnen und Kunden Dienste anbieten, die sich auf deren aktuellen Standort beziehen, z.B. das lokale Kinoprogramm, Informationen über das nächstgelegene Hotel oder den Weg zu einer bestimmten Adresse.» Ob Sunrise «Smart Step» einführen will, ist nicht bekannt.

Bewegungsprofile als Kunst

Bedeutend harmloser als «Smart Step» war das Kunstprojekt «Ville Vivant» in Genf, welches im Februar 2012 anhand von Daten der Swisscom die Personenströme während einer ganzen Woche visualisierte.

https://grundrechte.ch/2013/Telefonwoche_Genf.JPG

Auch Postfinance wertet Kundendaten statistisch aus. Das sogenannte E-Cockpit ist Teil des E-Banking-Portals und schlüsselt für jeden Kunden Einkäufe mit Postcard in verschiedene Kategorien wie Essen, Wohnen oder Kleidung auf. Der Dienst ist freiwillig, wer mitmacht, akzeptiert die Auswertung seiner Daten. Negative Reaktionen gab es laut Sprecher Alex Josty bislang keine. Postfinance mache sich derzeit grundsätzliche Gedanken über die kommerzielle Nutzung von Kundendaten. Migros und Coop erfassen mit ihren Kundenkarten seit Jahren Einkäufe, bei Coop werden die Daten erst seit Herbst 2012 ausgewertet. Migros setzt sie seit langem gezielt im Marketing ein. Kauft jemand häufig Tierfutter, wird er auf neue Produkte hingewiesen und erhält Rabatt-Bons. Auch ob man die Bons nutzt, wird erfasst. «Wir können auch feststellen, in welcher Region ein Kunde häufig einkauft», sagt Sprecherin Monika Weibel. Eine Liste aller schwangeren Kundinnen wäre für Migros und Coop zwar interessant. Allerdings sprechen laut Coop «moralisch-ethische Grundsätze» gegen eine solche Auswertung. Stattdessen setzen beide Detailhändler auf Clubs, bei denen die werdenden Eltern freiwillig Mitglied werden, um dadurch von Spezialaktionen zu profitieren.

 

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