Zwei gewalttätige SeniorInnen

20. Juni 2013

Mit dem neuen Nachrichtendienstgesetz wird alles nur noch schlimmer, befürchten Erika und Ruedi Bantle. Der Staatsschutz hatte das Paar seit Jahrzehnten im Visier.

Von Heiner Busch, WOZ Nr. 25/2013

Was bewirkt politische Überwachung bei den Betroffenen? «Das raubt einem die Hoffnung», sagt Erika Bantle. Ihr Mann Ruedi nickt zustimmend. Im Februar haben die beiden je ein Paket erhalten. Absender: Schweizerische Eidgenossenschaft, Nachrichtendienst des Bundes (NDB). Die Kartons hat Erika Bantle aufbewahrt. Der Inhalt liegt jetzt ordentlich abgeheftet in einem dicken Bundesordner vor uns auf dem Tisch ihrer Wohnung in Basel: ein Ausdruck ihrer Daten aus dem Staatsschutzinformationssystem ISIS und Kopien der zugehörigen Akten, die als «Bilddaten» ebenfalls in ISIS gespeichert waren.

Die Daten der Bantles seien jetzt gelöscht, heisst es im Begleitschreiben des NDB. Weil die beiden im Juli 2010 ein Einsichtsgesuch gestellt hätten, müssten ihnen nun die Unterlagen offengelegt werden. So sieht es Artikel 18 des Bundesgesetzes über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS) vor. Wie in einem Zerrspiegel zeigt sich in den Akten und Daten die Geschichte des politischen Protests der letzten Jahrzehnte, an der Erika und Ruedi Bantle in Basel beteiligt waren.

Die alten Fichen

Erika Bantle ist jetzt 78 Jahre alt, Ruedi 87. Sie waren ihr Leben lang engagierte Linke und wurden auch ein Leben lang überwacht. Im Arbeitszimmer stehen noch die Ordner mit den Kopien der alten Fichen und des Staatsschutzdossiers, die sie nach dem ersten Fichenskandal 1989/90 erhalten haben – rund ein halber Zentner Papier. «Ruedi musste die Pakete damals mit dem Veloanhänger abholen», erinnert sich Erika Bantle. Sein erster Eintrag auf den grünen A5-Karteikarten datiert aus dem Jahr 1944 und betraf eine Petition für Karl Hofmaier, den Sekretär der verbotenen Kommunistischen Partei der Schweiz und später der Partei der Arbeit (PdA). Am 8. Mai 1944 vermerkt die «Politische Abteilung» der Basler Kantonspolizei, dass der «Bantle Rudolf, Mechanikerlehrling» zum «Viceobmann» der Freien Jugend Basel gewählt worden sei. Die Fichengeschichte seiner Frau Erika beginnt kurz nachdem sie 1952 aus Deutschland in die Schweiz gekommen war, um eine Stelle im Naturfreundehaus in Grindelwald anzutreten. Noch in den siebziger Jahren hat die politische Polizei fünfzigseitige Protokolle von Sitzungen des PdA-Zentralkomitees angefertigt, dem Ruedi damals angehörte. Der letzte Eintrag in der alten Fiche kam 1989 – eine Gedenkdemo für den in El Salvador vom Militär ermordeten Schweizer Aktivisten Jürg Weis.

Im November desselben Jahres veröffentlichte die Parlamentarische Untersuchungskommission über «Vorkommnisse im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement» ihren Bericht. 900,000 Personen und Organisationen waren in den Karteien der damaligen Bundespolizei verzeichnet. Der Bundesrat gelobte Besserung. Das Stimmvolk hatte nach ein paar Jahren seine Wut über den Skandal vergessen und lehnte im Juni 1998 die Initiative «Schweiz ohne Schnüffelpolizei» und damit die ersatzlose Abschaffung der politischen Polizei ab.

Im Bundesgesetz über die Wahrung der inneren Sicherheit heisst es seitdem: «Die Sicherheitsorgane des Bundes und der Kantone dürfen Informationen über die politische Betätigung (…) nicht bearbeiten» – es sei denn, es bestehe der «begründete Verdacht», dass die Grundrechte nur als «Vorwand» dienten, «um terroristische, gewalttätig-extremistische oder verbotene nachrichtendienstliche Tätigkeiten vorzubereiten oder durchzuführen». Aus der Bundespolizei wurde der Dienst für Analyse und Prävention (DAP). Den Staatsschutz in Basel besorgte nun die Fachgruppe 9 der Staatsanwaltschaft. Das Zeitalter der Schreibmaschinen, der Karteikarten und der Papierakten war vorbei.

Mit dem falschen Foto

Spätestens seit dem Davoser World Economic Forum (Wef) von 2001 hat der Staatsschutz die neue globalisierungskritische Bewegung fest im Blick. Weil das blosse Äussern einer «extremistischen» Meinung eigentlich nicht mehr fichiert werden darf, will der DAP nun zwischen friedlichen und gewalttätigen GlobalisierungskritikerInnen unterscheiden. Im Zentrum der Letzteren verortet er den Schwarzen Block und insbesondere den Revolutionären Aufbau Schweiz.

Die neue elektronische Fiche der Bantles beginnt im September 2002, als die Basler StaatsschützerInnen im Auftrag des DAP eine Liste von Personen zusammenstellen, «die der Fachgruppe 9 aus den Jahren 1997–2002 bekannt geworden sind». Erika und Ruedi Bantle sind dort aufgeführt, weil sie im Juli 2001 dabei waren, als man an der Grenze Leute aus Deutschland empfing, die in Bussen zu den Demos gegen den G8-Gipfel in Genua weiterreisen wollten. In der Spalte «Gewaltdelikte» steht bei den beiden zwar ein «Nein». Dennoch werden sie fortan in ISIS als «gewalttätige Linksextremisten» registriert. Kostproben:

• Anti-Wef-Demo, 29. Januar 2005: Die Polizei kesselt die DemonstrantInnen auf dem Barfüsserplatz ein. «Das Schlimme waren die Riesengitter ringsum, die auf den Polizeiautos aufgeschraubt waren. Da musste man dann einzeln durchgehen», erinnert sich Erika. Etwa 400 Personen werden kontrolliert. 129 waren schon in ISIS erfasst. «Das Foto ist übrigens nicht von mir, sondern von einer Genossin.»

• «Gewalttätiger Extremismus: Demonstration ‹Freiheit für Erdogan!›», 18. März 2006: Erdogan E. sitzt in Liestal in Haft. Die Türkei fordert die Auslieferung des jungen Asylsuchenden. «Die ganze Kampagne stand offensichtlich unter der Regie der Gesinnungsgenossen aus der besetzten Liegenschaft Villa Rosenau», heisst es im Bericht der Fachgruppe 9. «Die Demonstration vom Claraplatz zum Marktplatz verlief lautstark, aber ohne Zwischenfälle.» Im Anhang finden sich Demoaufrufe und Fotos, dieses Mal auch von der richtigen Erika. Von den geschätzten 150 bis 200 TeilnehmerInnen haben die StaatsschützerInnen 15 wiedererkannt. Auch an weiteren – friedlichen – Solidaritätskundgebungen für Erdogan E. werden Erika und Ruedi Bantle «identifiziert». Am 30. Januar 2007 ist Erdogan E. endlich frei. Das Bundesgericht hat den Rekurs seines Anwalts gutgeheissen.

• Anti-Wef-Demo, 27. Januar 2007: Eine Gruppe von Leuten, darunter Erika Bantle sowie die beiden Grossrätinnen Heidi Mück (Basta) und Tanja Soland (SP), hatte die Bewilligung eingeholt. «Ich habe auch eine ganze Liste von unterstützenden Organisationen zusammengebracht.» Der Staatsschutz sieht sich in seinen Warnungen vor dem «hohen Gewaltpotential» bestätigt. Drei Polizisten seien durch «Wurfgeschosse aus Eis und Schnee» leicht verletzt worden. Der Bericht vermerkt eine versuchte Sachbeschädigung bei einer UBS-Filiale und eine Serie von Sprayereien. «Die sich im hinteren Bereich des Demonstrationszugs aufhaltenden Bewilligungsnehmer konnten oder wollten nicht gegen die Übergriffe auf die Polizei oder gegen die Sachbeschädigungen einschreiten.» Sieben Personen wurden festgenommen. Sie waren dem Staatsschutz bis dahin nicht bekannt.

Und so weiter. Erika und Ruedi Bantle wurden weiter an Demos gesehen und nahmen auch an Gerichtsverhandlungen teil, die der Staatsschutz observierte, weil auch der Revolutionäre Aufbau dazu aufgerufen hatte. «Wenn man diesen Kram liest, könnte man meinen, wir seien dort Mitglied», sagt Erika. Dass der Staatsschutz tatsächlich dieser Auffassung ist, zeigt der letzte Eintrag in der Fiche: Er betrifft die «Relation» zur «Organisation» des Aufbaus: «Mitglied» steht da – was für ein Unsinn. «Die suchen immer noch nach Rädelsführern», kommentiert Ruedi.

Bald noch mehr Befugnisse?

Aus dem DAP ist 2009 nach der Zusammenlegung mit dem Auslandsgeheimdienst der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) geworden. Die für seine Kontrolle zuständige Geschäftsprüfungsdelegation der Eidgenössischen Räte berichtet im Juni 2010, dass in ISIS nunmehr 200,000 Personen erfasst sind. Der NDB muss die Einträge überprüfen. Im Mai 2013 verkünden Bundesrat Ueli Maurer und NDB-Chef Markus Seiler, die Überprüfung sei nun abgeschlossen. Über 30,000 elektronische Fichen sind übrig geblieben. Ein neues Nachrichtendienstgesetz, das dem NDB noch mehr Befugnisse geben soll, ist in der Vernehmlassung.

«Glaubst du, dass sich dadurch etwas ändert?», fragt Erika. Es ist nur eine rhetorische Frage.

Schnüffeln, lauschen, verwanzen, hacken

Mit Schwung vorwärts in die Vergangenheit

Der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) soll künftig Telefone abhören, E-Mails mitlesen, private Gespräche in Wohnungen mit Wanzen oder Richtmikrofonen belauschen und zudem Trojaner zum Durchwühlen fremder Computer einsetzen dürfen. So sieht es Bundesrat Ueli Maurers Entwurf eines Nachrichtendienstgesetzes (NDG) vor, für den Ende dieses Monats die Vernehmlassungsfrist abläuft. Zwar sollen diese Massnahmen durch den Präsidenten einer Kammer des Bundesverwaltungsgerichts bewilligt werden müssen. Einen Straftatverdacht braucht es aber nicht: Der Geheimdienst bewegt sich im präventiven Vorfeld der Strafverfolgung, oder anders gesagt: im Bereich der Spekulation über mögliche Bedrohungen.

Die Forderungen sind nicht neu: Schon 1995, in der Debatte um das Bundesgesetz über Massnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit (BWIS), hatten rechte Hardliner im Ständerat argumentiert, die Bekämpfung der «organisierten Kriminalität» sei ohne Telefonüberwachung unmöglich. Dem damals für den Staatsschutz zuständigen Justizminister Arnold Koller (CVP) ging das zu weit. Nach dem Fichenskandal sollte das BWIS als saubere Rechtsgrundlage für einen geläuterten Staatsschutz verkauft werden. Das 1998 in Kraft getretene Gesetz war dabei keineswegs harmlos. Es erlaubte beispielsweise den Zugriff auf öffentliche Register und die Observation – auch mit technischen Mitteln – im öffentlich zugänglichen Raum. Es enthielt Auskunfts- und Meldepflichten für alle möglichen Behörden. Das nach dem grossen Skandal mühsam erkämpfte Recht auf Einsicht in die eigenen Daten wurde faktisch abgeschafft.

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 folgte die nächste Runde: Sowohl der Staatsschutz selbst als auch Parlamentarier wie die späteren FDP-Bundesräte Hans-Rudolf Merz und Didier Burkhalter machten sich nun für die präventive Überwachung der Telekommunikation stark. 2005 gelangte ein noch interner Entwurf für ein «BWIS II» via «Weltwoche» an die Öffentlichkeit. 2006 präsentierte Justizminister Christoph Blocher (SVP) einen neuen Entwurf, den das Parlament 2009 zurückwies. Im Herbst 2011 billigte es ein nunmehr unter Militärminister Ueli Maurer, dem Dienstherrn des neuen NDB, erarbeitetes «BWIS II light». Das erlaubte nun unter anderem das Ausstellen von Tarnidentitäten für die haupt- und nebenamtlichen Spitzel des Geheimdiensts.

Mit seinem NDG-Entwurf kehrt Maurer zurück zum BWIS II seines Parteispezis Blocher. Alles halb so wild, lautet die offizielle Parole. Die neuen Überwachungsmethoden würden nur eingesetzt bei schweren Bedrohungen – etwa zur Bekämpfung des Terrorismus, aber nicht gegen den blossen «gewalttätigen Extremismus». Das Dumme ist nur, dass der Geheimdienst beispielsweise im Fall der kurdischen PKK die Etiketten «Terrorismus» und «Extremismus» nach Gusto wechselt und dass solche Befugnisse wie Einstiegsdrogen wirken: einmal angefangen, nie mehr aufgehört.

 

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