Jihadisten im Fokus der Staatsschützer

10. November 2012, «NZZ»

Wie viele Terroropfer erträgt die Schweiz? Keine, sagt der Nachrichtendienst. Als besonders gefährlich erachtet er Einzeltäter, weshalb er nach mehr Kompetenzen im Kampf gegen den Jihadismus ruft.

Nadine Jürgensen, Fabian Baumgartner, Bern

Ein hochgewachsener Mann im dunkelblauen Anzug, mit randloser Brille und kahlem Kopf reicht uns die Hand. Seine Anwesenheit war nicht angekündigt worden für das Treffen mit den Vertretern des Bundesamtes für Polizei (Fedpol) und des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB). Seine Hand steckt in einem Verband. Er stellt sich nur mit dem Vornamen vor. Dabei bleibt es. Die Identität des Mannes, der uns vertiefte Einblicke in die Jihadismus-Bekämpfung geben wird, soll anonym bleiben.

Wir befinden uns in einer der Ermittlungszentralen des Fedpol in Bern, wo das Kommissariat III Terrorismus der Bundeskriminalpolizei untergebracht ist. Zehn Personen ermitteln hier, sechs zusätzliche Stellen wurden jüngst vom Bundesrat für die Suche nach Hinweisen auf strafbare Handlungen von Jihadisten eingerichtet. Sie tauschen sich intensiv mit jenen neun Spezialisten des NDB aus, die für den präventiven Teil des Jihadismus-Monitorings eingesetzt werden.

Radikalisierung im Internet

Im März stellte das Fedpol die kriminalstrategische Priorisierung 2012–2015 vor, die in Zusammenarbeit mit der Bundesanwaltschaft und dem NDB zuhanden des Bundesrates verfasst wurde. Die Bekämpfung von Terrororganisationen, insbesondere des Jihadismus, wird dabei als Priorität eingestuft, zusammen mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität sowie der internationalen Korruption und der Geldwäscherei.

Wie real ist die Gefahr, die von Jihadisten ausgeht? Wie viele von ihnen gibt es in der Schweiz? Im Fedpol geht man von einer tiefen zweistelligen Zahl aus. Nach derzeitiger Einschätzung stelle die Schweiz zudem kein primäres Anschlagsziel dar. Es gebe keine konkreten Hinweise auf die Planung oder Vorbereitung eines jihadistischen Anschlags in der Schweiz oder auf ein schweizerisches Ziel im Ausland, heisst es bei Fedpol und NDB. Schweizer Bürger sind vornehmlich im Ausland von Anschlägen bedroht, wie der Terroranschlag 2011 in Marrakesch verdeutlicht.

In der Schweiz gilt es laut den Staatsschützern jedoch besonders zu verhindern, dass das Land von den Jihadisten für die Rekrutierung oder die Vorbereitung von Terrorakten missbraucht wird. Insbesondere dem Internet komme dabei eine wesentliche und zunehmende Bedeutung zu. Dabei können in der Szene beliebte Seiten rasch verschwinden, vor allem dann, wenn die Betreiber fürchten, dass sie überwacht werden. Zudem folgen auch die Jihad-Sympathisanten den neusten Trends. Entsprechend wird der gewaltsame Jihad immer häufiger auch über soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter oder Youtube propagiert. So kann nicht zuletzt die Zielgruppe, junge muslimische Männer, gut angesprochen werden. Lange Zeit stark frequentierte und prominente Internetforen verzeichnen deshalb sogar Mitgliederverluste. Diese Meinung vertritt auch der Islamwissenschafter Guido Steinberg. Im Internet könnten Unterstützer und Sympathisanten für den «individuellen Jihad» gewonnen werden, so Steinberg. Sie werden über das Internet vor Ort radikalisiert, ohne dass sie jemals für eine Kampfausbildung in jihadistische Gebiete wie Pakistan oder Somalia gereist wären. Dabei werden etwa Videos verwendet, die Computerspielen nachempfunden sind und martialische Wüstenritter glorifizieren.

Keine Garantie

Besorgniserregend war der Fall des 1989 geborenen Muhammed Merah, der im März in Frankreich mehrere Mordanschläge auf französische Soldaten und eine jüdische Schule verübte. Solche Einzeltäter sind für die Sicherheitsbehörden nur schwer frühzeitig identifizierbar. Ins gleiche Raster fällt der Fall von Arid Uka, der 2011 am Frankfurter Flughafen zwei amerikanische Soldaten erschoss. Solche Taten, sagen Fedpol und Nachrichtendienst, lägen auch in der Schweiz «im Bereich des Möglichen». Jeder getötete Zivilist sei jedoch einer zu viel. Nicht auszudenken, welche Vorwürfe auf sie niederprasseln würden, sollte das Undenkbare doch geschehen, sagt der Kommunikationschef des NDB, Felix Endrich.

Die rechtzeitige Enttarnung eines solchen jihadistischen Einzeltäters ist vor der Tat praktisch unmöglich, heisst es beim NDB. Umso mehr, als den Staatsschützern laut Experten ungenügende präventive Mittel zur Verfügung stehen. Eine ernsthafte Terrorismusbekämpfung ohne zusätzliche Mittel der präventiven Überwachung, wie sie im neuen Nachrichtendienstgesetz vorgesehen seien, sei nicht möglich. Die Schweiz stelle im Vergleich zum Ausland eine Sicherheitslücke dar. Dazu komme, dass ausländische Nachrichtendienste in der Schweiz verbotenerweise ihre eigenen Informanten einsetzten.

Inwiefern würde die präventive Überwachung nützen? Der NDB verspricht sich viel davon, auch wenn sie keine Garantie dafür sei, dass man auch jeden Einzeltäter erwische. Sie biete aber die Chance, Gespräche, die im Privaten hinter verschlossenen Türen oder in Hotels stattfinden, mithören zu können. Solche Informationen könnten als Hinweis dienen und ein entscheidendes Puzzleteil sein, um einen möglichen Täter zu identifizieren. Ob die Kompetenzen des Nachrichtendienstes ausgeweitet werden, darüber entscheidet die Politik. Bis Ende Jahr wird die Botschaft zum neuen Gesetz erwartet.

Terrorismusprävention per Gesetz

Jü. Die Schweizer Strafverfolgungsbehörden können sich bei der Bekämpfung des Terrorismus auf zwei Straftatbestände des materiellen Strafrechts stützen. Jenen der Beteiligung an einer kriminellen Organisation (Artikel 260ter) und den Artikel zur Finanzierung des Terrorismus (Artikel 260quinquies). Allerdings muss dazu die massgebliche Handlung ganz oder zumindest teilweise in der Schweiz erfolgt sein.

Ermittlungen im Vorfeld einer geplanten terroristischen Straftat sind oft schwierig, da Beweise entweder schlecht zu beschaffen sind (wenn die Taten im Ausland geschehen) oder nicht darauf zugegriffen werden kann.

Die Schweiz hat im Juni das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung des Terrorismus unterzeichnet. Handlungen, die zwar noch keine Terrorakte sind, aber zu terroristischen Straftaten führen können, werden damit unter Strafe gestellt. Konkret geht es dabei um die Ausbildung und die Rekrutierung von Terroristen.

Im Hinblick auf die Ratifizierung wird die Einführung einer neuen Strafbestimmung zu prüfen sein, die das Vorfeld einer geplanten terroristischen Straftat abdeckt. Die strafrechtliche Verfolgung jihadistischer Reisebewegungen ins Ausland könnte dadurch erleichtert werden. Eine Arbeitsgruppe erarbeitet zurzeit einen Vernehmlassungsentwurf. Laut dem Bundesamt für Justiz soll die Vorverlagerung und Ausweitung der Strafbarkeit verhältnismässig sein. Unnötige Eingriffe in die Grundfreiheiten seien zu vermeiden.

 

Webauftritt gestaltet mit YAML (CSS Framework), Contao 3.5.27 (Content Management System) und PHPList (Newsletter Engine)

Copyright © 2006-2024 by grundrechte.ch