Wir sind alle verdächtig

21. März 2013

Noch mehr Kon­trol­le? Jus­tiz­mi­nis­te­rin Si­mo­net­ta Som­maru­ga will den Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den mit dem neu­en Bun­des­ge­setz zur Über­wa­chung von Post- und Fern­mel­de­ver­kehr (Büpf) mehr Über­wa­chung er­mög­li­chen - mit fal­schen Ar­gu­men­ten und ge­fähr­li­chen Kon­se­quen­zen, wie ei­ne Aus­wer­tung der heu­ti­gen Pra­xis zeigt.

Von Car­los Hani­mann, WOZ

Je­des Te­le­fo­nat, je­de In­ter­net­ver­bin­dung wird in der Schweiz für sechs Mo­na­te ge­spei­chert. Nicht der In­halt der Ge­sprä­che, aber fast al­les an­de­re: Wer ruft an? Wer kom­mu­ni­ziert mit wem? Wann? Wie lan­ge? Und von wo aus? Die­se In­for­ma­tio­nen wer­den von Schwei­zer Fern­mel­de­dienst­an­bie­tern auf­ge­zeich­net, al­so Te­le­fon­an­bie­tern auf dem fes­ten wie dem mo­bi­len Netz so­wie Ac­cess Pro­vi­dern, die ei­nen Zu­gang zum In­ter­net an­bie­ten. Sie müs­sen die­se «Rand­da­ten» der Kom­mu­ni­ka­ti­on von Ge­set­zes we­gen auf Vor­rat spei­chern, auf­be­wah­ren und an die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den her­aus­ge­ben, wenn die­se ein Straf­ver­fah­ren er­öff­nen.

Ge­re­gelt wird die Über­wa­chung von Te­le­fon, Han­dy und In­ter­net im «Bun­des­ge­setz be­tref­fend die Über­wa­chung des Post- und Fern­mel­de­ver­kehrs» (Büpf). En­de Fe­bru­ar hat Jus­tiz­mi­nis­te­rin Si­mo­net­ta Som­maru­ga die To­tal­re­vi­si­on des Büpf vor­ge­stellt. Dem­nach sol­len Vor­rats­da­ten künf­tig nicht nur sechs, son­dern zwölf Mo­na­te lang auf­be­wahrt wer­den. Auch sol­len in Zu­kunft rei­ne E-Mail- oder Hos­ting-Pro­vi­der ver­pflich­tet wer­den, Vor­rats­da­ten zu spei­chern. Das Ge­setz wird ver­mut­lich in der zwei­ten Jah­res­hälf­te dem Par­la­ment vor­ge­legt.

In Eu­ro­pa stark um­strit­ten

Die Idee da­hin­ter ist so ein­fach wie ge­fähr­lich: Die Pro­vi­der wer­den an­ge­hal­ten, mög­lichst vie­le In­for­ma­tio­nen über die Bür­ge­rIn­nen zu sam­meln und zu spei­chern - für den Fall, dass die­se spä­ter un­ter Ver­dacht ge­ra­ten, an ei­nem Straf­de­likt be­tei­ligt ge­we­sen zu sein. Die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den hof­fen, dass ih­nen die Vor­rats­da­ten nach­träg­lich nütz­lich sind, um De­lik­te auf­zu­klä­ren.

Was in der Schweiz seit 2002 prak­ti­ziert und nun ver­schärft wer­den soll, ist in an­de­ren eu­ro­päi­schen Staa­ten stark um­strit­ten. Der Bun­des­rat be­tont in sei­ner Bot­schaft, dass man sich an ei­ner EU-Richt­li­nie ori­en­tiert ha­be. Die­se Richt­li­nie aus dem Jahr 2006 ver­pflich­tet al­le EU-Mit­glieds­län­der zur Spei­che­rung von Vor­rats­da­ten. Al­ler­dings ist so­wohl das iri­sche wie auch das ös­ter­rei­chi­sche Ver­fas­sungs­ge­richt an den Eu­ro­päi­schen Ge­richts­hof ge­langt, um die Fra­ge klä­ren zu las­sen, ob die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung mit der EU-Grund­rech­te­char­ta ver­ein­bar sei. In Deutsch­land wur­de 2010 nach hef­ti­gen Pro­tes­ten ein Ge­setz zur Vor­rats­da­ten­spei­che­rung für ver­fas­sungs­wid­rig er­klärt.

Und doch will der Bun­des­rat den Staats­an­walt­schaf­ten und Po­li­zei­en mehr Kom­pe­ten­zen ge­ben. In der Ge­set­zes­bot­schaft be­zeich­net er die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung als «zur Be­kämp­fung der Kri­mi­na­li­tät ab­so­lut un­ab­ding­bar» - Zah­len, die ei­nen Zu­sam­men­hang zwi­schen Spei­che­rung und Auf­klä­rungs­ra­te be­le­gen, ist er bis­her aber schul­dig ge­blie­ben. An­fang 2012 mach­te der deut­sche Cha­os Com­pu­ter Club gar ei­ne Stu­die des re­nom­mier­ten Max-Planck-In­sti­tuts für das deut­sche Bun­des­jus­tiz­mi­nis­te­ri­um pu­blik, nach der die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung für die Ver­bre­chens­be­kämp­fung nicht not­wen­dig sei.

Der Dienst Üpf, der bei den Fern­mel­de­dienst­an­bie­tern die ver­lang­ten Da­ten ein­holt und sie an Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den wei­ter­gibt, ver­öf­fent­licht jähr­lich ei­ne Sta­tis­tik über sämt­li­che Über­wa­chun­gen, die an­ge­ord­net wur­den - so­wohl über die Echt­zeit­über­wa­chun­gen, bei de­nen Ge­sprä­che mit­ge­hört und Nach­rich­ten mit­ge­le­sen wer­den, als auch über die «rück­wir­ken­den Über­wa­chun­gen», wie der Ab­ruf von Vor­rats­da­ten be­zeich­net wird. Zu­dem wer­den auch so­ge­nann­te Aus­künf­te ge­sam­melt, von ein­fa­chen Ab­fra­gen von Te­le­fon­num­mern bis hin zur Iden­ti­fi­ka­ti­on ei­ner IP-Adres­se.

Wie stark ha­ben die Über­wa­chun­gen mit Vor­rats­da­ten zu­ge­nom­men? In wel­chen Kan­to­nen wur­den 2012 am meis­ten Über­wa­chun­gen an­ge­ord­net? Wel­che Ge­rä­te wur­den am häu­figs­ten über­wacht? We­gen wel­cher De­lik­te? Und wie vie­le Ras­ter­fahn­dun­gen gab es? Die WOZ hat die Da­ten aus­ge­wer­tet.

•  Ins­ge­samt ha­ben die Über­wa­chun­gen mit Vor­rats­da­ten über­pro­por­tio­nal zu­ge­nom­men und mach­ten letz­tes Jahr 6960 von ins­ge­samt 10 193 Über­wa­chun­gen aus, al­so 68 Pro­zent. 1998, als die Sta­tis­tik erst­mals ver­öf­fent­licht wur­de, wur­den nur 1951 rück­wir­ken­de Über­wa­chun­gen an­ge­ord­net, letz­tes Jahr wa­ren es 6960 - ein An­stieg um über 250 Pro­zent. Der weit­aus über­wie­gen­de Teil be­zieht sich auf die Mo­bil­te­le­fo­nie; 2012 wur­de da­bei 73-mal die Ras­ter­fahn­dung ein­ge­setzt.

•  Wenn der Über­wa­chungs­ap­pa­rat aus­ge­baut wer­den soll, wird dies fast im­mer mit den­sel­ben drei oder vier Ver­bre­chens­be­rei­chen be­grün­det, die man ent­schie­den be­kämp­fen möch­te: Ter­ro­ris­mus, Kin­der­por­no­gra­fie und kri­mi­nel­le Or­ga­ni­sa­tio­nen. Die­se De­lik­te wa­ren al­ler­dings nur für ei­nen Bruch­teil der Über­wa­chun­gen ur­säch­lich: 2,3 Pro­zent der Über­wa­chun­gen er­folg­ten we­gen Ver­dachts auf Ter­ro­ris­mus (239 Fäl­le), 0,4 Pro­zent we­gen Kin­der­por­no­gra­fie (41 Fäl­le) und 0,8 Pro­zent we­gen kri­mi­nel­ler Or­ga­ni­sa­tio­nen (79 Fäl­le nach Straf­ge­setz­buch Ar­ti­kel 260­ter).

•  Al­ler­dings wur­de in 42 Pro­zent al­ler Über­wa­chun­gen (4280 Fäl­le) we­gen Dro­gen­han­dels er­mit­telt, von de­nen ein gros­ser Teil der or­ga­ni­sier­ten Kri­mi­na­li­tät zu­ge­rech­net wer­den könn­te. Fast ein Drit­tel al­ler Über­wa­chun­gen (3282 Fäl­le) er­folg­te we­gen Fi­nanz­de­lik­ten, vor­nehm­lich Raub, Dieb­stahl und Be­trug.

•  Mit Ab­stand am meis­ten Über­wa­chun­gen wur­den im Kan­ton Genf ver­an­lasst, so­wohl in ab­so­lu­ten Zah­len wie auch im Ver­hält­nis zur Be­völ­ke­rungs­grös­se. Der Kan­ton Genf über­wach­te bei­na­he drei­mal so häu­fig wie in den nach­fol­gen­den Kan­to­nen. In drei Vier­teln der Fäl­le stütz­ten sich die Be­hör­den auf Vor­rats­da­ten - nur bei ei­nem Vier­tel wur­de ei­ne Echt­zeit­über­wa­chung be­an­tragt. Da­bei ging es in 41 Pro­zent al­ler Fäl­le um Dro­gen­han­del.

•  Die Bun­des­an­walt­schaft hin­ge­gen er­mit­tel­te in ers­ter Li­nie we­gen Ver­bre­chen ge­gen den öf­fent­li­chen Frie­den, da­bei ging es in 78 Fäl­len um Er­mitt­lun­gen ge­gen ei­ne kri­mi­nel­le Or­ga­ni­sa­ti­on.

Wo­zu das Gan­ze?

Ge­gen­wär­tig gibt es in der Schweiz 4,6 Mil­lio­nen Te­le­fon­haupt­lei­tun­gen, über 10 Mil­lio­nen Mo­bil­te­le­fo­ne sind re­gis­triert, 80 Pro­zent der Be­völ­ke­rung nut­zen das In­ter­net. Die Vor­rats­da­ten­spei­che­rung stellt sie al­le un­ter Ge­ne­ral­ver­dacht - un­ge­ach­tet der Fra­ge, ob die Straf­ver­fol­gungs­be­hör­den die Da­ten am En­de über­haupt zur Auf­klä­rung von Ver­bre­chen be­nö­ti­gen. Als Jus­tiz­mi­nis­te­rin Si­mo­net­ta Som­maru­ga En­de Fe­bru­ar das neue Ge­setz vor­stell­te, sag­te sie, es sei ihr klar, dass «Schlag­wör­ter wie ‹Fi­chen­skan­dal› oder ‹Big Bro­ther› - oder in mei­nem Fall jetzt ‹Big Sis­ter›» schnell fal­len wür­den. Sie wol­le des­halb klar­stel­len, dass das Büpf «nichts mit prä­ven­ti­ver Über­wa­chung» zu tun ha­be. In der Bot­schaft zum neu­en Ge­setz heisst es zur Vor­rats­da­ten­spei­che­rung: «Die­se Da­ten wer­den auf ‹Vor­rat› für all­fäl­li­ge künf­ti­ge Straf­un­ter­su­chun­gen auf­be­wahrt und sind zur Be­kämp­fung der Kri­mi­na­li­tät un­er­läss­lich.» Gä­be es ei­ne bes­se­re Be­schrei­bung für «prä­ven­ti­ve Über­wa­chung»?

 

Webauftritt gestaltet mit YAML (CSS Framework), Contao 3.5.27 (Content Management System) und PHPList (Newsletter Engine)

Copyright © 2006-2025 by grundrechte.ch