Die Staatsanwälte übernehmen die Macht

3. August 2014

Ca­the­ri­ne Boss, Sonn­tags­zei­tung

Es ist ein Irr­tum, wenn man glaubt, dass es in der Schwei­zer Jus­tiz ei­ne Ge­wal­ten­tei­lung gibt - hier die Er­mitt­ler, dort die un­par­tei­isch ab­wä­gen­den Rich­ter. In­nert we­ni­ger Jah­re ha­ben die Staats­an­wäl­te de fac­to die ur­tei­len­de Ge­walt über­nom­men.

Die Kom­pe­ten­zen der Er­mitt­ler des Staa­tes sind 2011 mit der neu­en Straf­pro­zess­ord­nung stark aus­ge­baut wor­den. Per Straf­be­fehl kön­nen sie seit­her nicht nur Ba­ga­tell­fäl­le wie La­den­dieb­stäh­le oder ein­fa­che Ver­kehrs­de­lik­te, son­dern selbst schwer­wie­gen­de Ta­ten gleich selbst ab­ur­tei­len. Durch die­sen Sys­tem­wech­sel sind die Staats­an­wäl­te heu­te in der über­wie­gen­den Zahl der De­lik­te in der Schweiz nicht nur Straf­ver­fol­ger, son­dern auch gleich Rich­ter. Da­mit schwin­det der Ein­fluss der Rich­ter. Je­des Jahr wer­den in der Schweiz ge­gen 100,000 Ur­tei­le ge­spro­chen, die nie vor Ge­richt ver­han­delt wur­den.

Mitt­ler­wei­le kom­men auch schwe­re und auf­se­hen­er­re­gen­de De­lik­te nicht mehr vor den Rich­ter. Oh­ne Pro­zess ver­häng­ten die Staats­an­wäl­te jüngst die Stra­fen ge­gen den Na­zi-Twit­te­rer im Kan­ton Glarus oder ge­gen den Mann im Kan­ton Lu­zern, der im letz­ten De­zem­ber ei­nen Bun­des­rich­ter auf of­fe­ner Stras­se bru­tal an­griff und spi­tal­reif schlug. Auch der Wal­li­ser Wein­händ­ler Do­mi­ni­que Gi­roud, dem Steu­er­hin­ter­zie­hung im gros­sen Stil vor­ge­wor­fen wur­de, er­hielt kei­nen Pro­zess. Eben­so un­ter Aus­schluss der Öf­fent­lich­keit er­le­dig­te die Bun­des­an­walt­schaft ein spek­ta­ku­lä­res Ver­fah­ren ge­gen ei­nen Schwei­zer Treu­hän­der. Ihm wur­de im Rah­men des Sie­mens-Kor­rup­ti­ons­falls qua­li­fi­zier­te Geld­wä­sche­rei vor­ge­wor­fen. Er hat­te schwar­ze Kas­sen ein­ge­rich­tet, auf die über 24 Mil­lio­nen Eu­ro flos­sen.

Jetzt warnt erst­mals ein am­tie­ren­der Rich­ter des höchs­ten Schwei­zer Ge­richts vor die­ser Ent­wick­lung. Bun­des­rich­ter Ni­k­laus Ober­hol­zer spricht von ei­nem «dra­ma­ti­schen Rück­zug der Jus­tiz». Die­se sei kein Pri­vat­un­ter­neh­men, son­dern ei­ne der drei Staats­ge­wal­ten und da­mit ge­gen­über der Öf­fent­lich­keit zur Re­chen­schaft ver­pflich­tet. Heu­te lie­ge die Macht aber ein­deu­tig bei der Staats­an­walt­schaft. Der jus­tiz­kri­ti­sche deut­sche Bun­des­rich­ter Ralf Eschel­bach warn­te jüngst im «Spie­gel»: «Es wird die Ge­fahr über­se­hen, wie ein­fach es ist, in die­sem Sys­tem un­er­wünsch­te Per­so­nen aus dem Ver­kehr zu zie­hen.»

Wenn aber ei­ner ver­sagt, sind die Fol­gen ver­hee­rend

Die Öf­fent­lich­keit ist ein wich­ti­ger Pfei­ler der Jus­tiz. Die Bür­ger soll­ten in ei­ner De­mo­kra­tie be­fä­higt sein, zu kon­trol­lie­ren, was in den Ge­richts­sä­len vor sich geht. Doch das ver­hin­dern die Staats­an­walt­schaf­ten zu­neh­mend, wie ein Blick auf die Zah­len zeigt: Die Bun­des­an­walt­schaft schloss im Jahr 2011 erst 74 Ver­fah­ren per Straf­be­fehl ab. 2013 wa­ren es be­reits 713. Auch in den Kan­to­nen das glei­che Bild. In Ba­sel-Stadt wa­ren es vor drei Jah­ren 11,000 Fäl­le, die mit Straf­be­fehl er­le­digt wur­den, letz­tes Jahr be­reits 25,000. Stark zu­ge­nom­men hat die Zahl der Straf­be­feh­le für gra­vie­ren­de De­lik­te. Dort ver­hän­gen die Staats­an­wäl­te so­gar un­be­ding­te Ge­fäng­nis­stra­fen. Im Kan­ton Aar­gau bei­spiels­wei­se er­lies­sen die Staats­an­wäl­te letz­tes Jahr 297 un­be­ding­te Frei­heits­stra­fen per Straf­be­fehl, 2010 wa­ren es 186.

Auf die­se Wei­se kom­men im­mer we­ni­ger Be­schul­dig­te vor Ge­richt. Im Kan­ton Zü­rich wur­den 2009 knapp zehn Pro­zent der Ver­fah­ren vor Ge­richt ent­schie­den. Letz­tes Jahr war es nur noch fünf Pro­zent. Im Kan­ton St. Gal­len se­hen nur drei Pro­zent der Be­schul­dig­ten ei­nen Rich­ter, im Kan­ton Lu­zern letz­tes Jahr we­ni­ger als ein Pro­zent.

Für den Zür­cher Rechts­pro­fes­sor Marc Thom­men ist be­son­ders stos­send, dass die Staats­an­wäl­te ur­tei­len dür­fen, oh­ne die Be­schul­dig­ten je ge­se­hen zu ha­ben - al­lein auf­grund der Ak­ten. «Das ist äus­serst pro­ble­ma­tisch.» Es feh­le je­de Trans­pa­renz. «Die Über­prü­fungs­ge­walt ist höchst li­mi­tiert, man hat sich von der Idee ver­ab­schie­det, dass Ge­rich­te als neu­tra­le In­stanz ei­nen Macht­aus­gleich zwi­schen Straf­ver­fol­gung und Be­schul­dig­ten schaf­fen», sagt Thom­men. Da­durch sei die gan­ze Macht bei den Staats­an­wäl­ten zen­triert.

Der Zür­cher Rechts­an­walt Va­len­tin Land­mann kri­ti­siert ins­be­son­de­re, dass da­bei die Kon­trol­len feh­len: «Be­son­ders wenn sie sich in ei­nen Fall ver­beis­sen, ist die Macht der Er­mitt­ler gross, die Kon­trol­le über ih­re Ar­beit aber un­ge­nü­gend.» Mehr als je­der an­de­re Staats­die­ner wä­ren die Staats­an­wäl­te der Wahr­heits­fin­dung ver­pflich­tet. Sie müss­ten Be­wei­se fin­den für ei­ne Schuld, gleich­zei­tig im­mer auch das Ent­las­ten­de im Au­ge be­hal­ten. «Sie un­ter­su­chen die be­las­ten­den und ent­las­ten­den Um­stän­de mit glei­cher Sorg­falt», steht in der Schwei­zer Straf­pro­zess­ord­nung. In der Pra­xis ist das ein schwie­ri­ger Ba­lan­ce­akt, nur die Bes­ten wer­den dem An­spruch ge­recht. Wenn aber ei­ner ver­sagt, sind die Fol­gen ver­hee­rend - dies zeigt ak­tu­ell das gröss­te Ma­fia-Ver­fah­ren der Bun­des­an­walt­schaft ge­gen 13 Be­schul­dig­te. Die Er­mitt­ler in Bern neh­men jetzt ei­nen neu­en An­lauf den be­reits zwölf­jäh­ri­gen Fall in den Griff zu be­kom­men. 9 von 13 Be­schul­dig­ten sol­len plötz­lich doch kei­ne Ma­fio­si sein - die­sen Vor­wurf will die Bun­des­an­walt­schaft fal­len las­sen. An­de­re An­kla­ge­punk­te sol­len im ver­kürz­ten Ver­fah­ren, ei­ni­ge mit Straf­be­feh­len er­le­digt wer­den. Der Berg hat ei­ne Maus ge­bo­ren - vom ganz gros­sen Ma­fia-Fall bleibt im­mer we­ni­ger üb­rig.

Elf Jah­re Er­mitt­lun­gen, un­wi­der­ruf­lich rui­nier­te Exis­ten­zen so­wie Kos­ten in Mil­lio­nen­hö­he - wie konn­te dies pas­sie­ren? Wie ist es mög­lich, dass kei­ner die­sen Er­mitt­lungs­wahn­sinn stopp­te? Der Fall hat viel mit feh­len­den Kon­trol­len im Jus­tiz­sys­tem zu tun, mit dem be­denk­li­chen Macht­zu­wachs der Schwei­zer Er­mitt­ler in den letz­ten Zehn Jah­ren - und nicht zu­letzt mit dem eit­len Ver­lan­gen der Staats­an­wäl­te des Bun­des, wie die Ma­fia­jä­ger in Ita­li­en auch hier­zu­lan­de Ca­pos zu ja­gen.

Als 2003 die Zür­cher Staats­an­walt­schaft die Plei­te von zwei De­vi­sen­han­dels­flrmen so­lid, aber un­spek­ta­ku­lär un­ter­such­te, wit­ter­te der da­ma­li­ge Bun­des­an­walt Va­len­tin Ro­scha­cher den gros­sen Ma­fia­fall. Meh­re­re Ita­lo-Schwei­zer mit Be­zie­hun­gen nach Ka­la­bri­en wa­ren in­vol­viert. Die for­schen Staats­an­wäl­te des Bun­des über­nah­men den Fall. Die Be­schul­dig­ten sei­en Geld­wä­scher der Ma­fia, sie hät­ten in der Schweiz ei­nen ei­ge­nen Ma­fi­a­clan ge­grün­det, so ih­re Ver­däch­ti­gun­gen.

Seit­her sind 4201 Er­mitt­lungs­ta­ge ver­gan­gen. Die Bun­des­er­mitt­ler ver­hör­ten ge­mäss Be­tei­lig­ten ge­gen 800 Per­so­nen, spei­cher­ten in ih­ren Com­pu­tern Do­ku­men­te im Um­fang von 1000 Bun­des­ord­nern, be­lausch­ten 24,000 Te­le­fon­ge­sprä­che, ih­re Kol­le­gen in Ita­li­en ver­wanz­ten Flug­zeu­ge und hör­ten da­bei wert­lo­se Ge­sprä­che der Be­schul­dig­ten über Fuss­ball­spie­le ab. Ei­ni­ge der be­schul­dig­ten Män­ner sas­sen jah­re­lang in Un­ter­su­chungs­haft, Ste­fa­no K. bei­spiels­wei­se ex­akt 751 Ta­ge. «Sie ha­ben im­mer wei­ter­ge­macht, kei­ne De­mü­ti­gung aus­ge­las­sen, be­reits elf Jah­re lang», sagt er. Er er­in­nert sich gut an den Tag, als er für ei­ne Be­fra­gung nach Lu­ga­no auf­ge­bo­ten war. In den Ta­gen da­vor ver­nahm er, sein Va­ter lie­ge in Ita­li­en im Spi­tal auf der In­ten­siv­sta­ti­on, sein Zu­stand sei kri­tisch. Er woll­te hin. Doch der Staats­an­walt lehn­te dies ab. Auf der Fahrt zum Ver­hör dann klin­gel­te das Han­dy - die Be­fra­gung sei ab­ge­sagt, hiess es. K. schaff­te es nur noch zur Be­er­di­gung.

Auch hier bleibt die Öf­fent­lich­keit aus­sen vor

Erst als die Staats­die­ner nach ei­ner De­ka­de Er­mitt­lungs­ar­beit die An­kla­ge­schrift ans Bun­des­straf­ge­richt schick­ten, ka­men erst­mals die Rich­ter ins Spiel - und prompt rann­ten die Er­mitt­ler ge­gen ei­ne Wand. Die Rich­ter in Bel­lin­zo­na re­tour­nier­ten die Schrift. Das Ver­fah­ren wei­se sys­te­ma­ti­sche Män­gel auf, die Rech­te der Be­schul­dig­ten sei­en in gra­vie­ren­der Wei­se miss­ach­tet wor­den. Das war die ers­te Ab­fuhr. Die zwei­te folg­te ein Jahr spä­ter, denn auch die über­ar­bei­te­te An­kla­ge­schrift lehn­ten die Bun­des­rich­ter prak­tisch um­ge­hend ab. Die Ab­hör­pro­to­kol­le, die als Fun­da­ment für die An­kla­ge her­hal­ten soll­ten, sei­en nicht re­gel­kon­form er­stellt wor­den.

Seit­her herrscht Auf­ruhr in der Bun­des­an­walt­schaft, denn der so­ge­nann­te Quam­ra-Fall droht auch für den jet­zi­gen Bun­des­an­walt Mi­cha­el Lau­ber zur Hy­po­thek zu wer­den. Be­reits muss­te er in der Ge­schäfts­prü­fungs­kom­mis­si­on Par­la­men­ta­ri­ern Re­de und Ant­wort ste­hen und das Schla­mas­sel er­klä­ren.

Jetzt plötz­lich geht es schnell - ab­schlies­sen, so rasch es geht, lau­tet die De­vi­se. Ein­stel­lun­gen, Straf­be­feh­le, ver­kürz­te Ver­fah­ren. So soll ein Mam­mut­fall ab­ge­speckt wer­den. Da­mit müs­sen die über­eif­ri­gen Staats­an­wäl­te zu­min­dest für die Mehr­zahl der Be­schul­dig­ten vor kei­nem Rich­ter er­klä­ren, was sie elf Jah­re lang ge­tan ha­ben. Ne­ben den Straf­be­feh­len und den feh­len­den Kon­troll­me­cha­nis­men gibt ein wei­te­res In­stru­ment den Staats­an­wäl­ten im­mer mehr Macht: Seit 2007 dür­fen sie Deals mit Be­schul­dig­ten ab­schlies­sen. Ge­stän­di­ge Tä­ter kön­nen sich mit Geld oder an­de­ren Leis­tun­gen frei­kau­fen, der Fall wird dann ein­ge­stellt. Kein Straf­re­gis­ter­ein­trag, kei­ne Skan­dal­ge­schich­te in den Me­di­en, nie­mand er­fährt, was be­zahlt wur­de und wes­halb.

Da­bei han­delt es sich mit­un­ter auch um schwer­wie­gen­de Fäl­le, die sonst mit Ge­fäng­nis­stra­fen bis zu zwei Jah­ren ge­ahn­det wür­den: Ver­ge­wal­ti­gun­gen, Wirt­schafts­de­lik­te, Kör­per­ver­let­zun­gen.

Re­cher­chen zei­gen, dass seit Ein­füh­rung die­ser Be­stim­mung in der Schweiz Hun­der­te Fäl­le so er­le­digt wur­den. Ex­ak­te Zah­len ver­wei­gern die meis­ten Staats­an­walt­schaf­ten auf An­fra­ge. Nur so viel: Im Kan­ton Ba­sel-Stadt wur­den von Ja­nu­ar 2013 bis April 2014 sechs Fäl­le über Deals er­le­digt, im Kan­ton Zü­rich sind es pro Jahr im Schnitt 15 bis 20, im Kan­ton Zug von 2011 bis 2013 ins­ge­samt 64. An­dre­as Brun­ner, bis vor fünf Mo­na­ten Ober­staats­an­walt des Kan­tons Zü­rich, sagt: «Das ist ein ganz un­schö­ner Ab­lass­han­del.» Auch hier bleibt die Öf­fent­lich­keit aus­sen vor.

Nächs­ten Don­ners­tag dis­ku­tiert die Rechts­kom­mis­si­on des Na­tio­nal­rats ei­ne Re­vi­si­on des Ge­set­zes, um die Ab­spra­chen künf­tig nur noch für ge­rin­ge­re Stra­fen zu­zu­las­sen.

Ei­ne ef­fi­zi­en­te Straf­ver­fol­gung, so die Leh­re aus den ver­gan­ge­nen Jah­ren, braucht zwar hand­lungs­fä­hi­ge Staats­an­wäl­te, die Ver­fah­ren ef­fi­zi­ent er­le­di­gen kön­nen. Doch als die Po­li­tik den Er­mitt­lern die­se Macht­fül­le über­trug, hat sie über­se­hen, dass da­bei die Rechts­staat­lich­keit zu­wei­len auf der Stre­cke bleibt und der Macht­miss­brauch nicht aus­ge­schlos­sen ist.

 

Webauftritt gestaltet mit YAML (CSS Framework), Contao 3.5.27 (Content Management System) und PHPList (Newsletter Engine)

Copyright © 2006-2025 by grundrechte.ch